Der Mörder mit der schönen Handschrift
niemanden um sich herum wahrnahmen. Er hatte in den Spielwarenläden für seine nicht vorhandenen Neffen nach ausgeklügeltem Spielzeug Ausschau gehalten. Er hatte die mit Glühbirnen behängten Tannenbäume auf der Esplanade bewundert. Er hatte dem Wind gelauscht, der das schon lange verstummte Orchester ersetzte.
Zufrieden kehrte er nach Hause zurück und verteilte die fünf Hühner als Weihnachtsgeschenke an seine vierzehn Katzen. Die Chabassut durfte nichts davon erfahren; sie hätte es sich nicht nehmen lassen, ihm vorwurfsvoll von den hungernden Menschen auf allen sechs Kontinenten zu erzählen und ihm seinen ungeheuerlichen Egoismus vorzuhalten, über den er sich ohnehin keine Illusionen machte.
Das Feuer prasselte im Kamin. Ein spirituelles Feuer mit tanzenden blauen Flammen. Ein Feuer von edlem, seltenem Holz, kein Buchen-oder Eichenholz diesmal, sondern das Holz von den Ufern der Flüsse, das man erst lange trocken lagern muss, bevor man es verwenden kann; kleine Äste, die beim Verbrennen Flammen von unvergleichlicher Farbenvielfalt hervorzaubern.
Wenn er das Gefühl hatte, er hätte jetzt eine kleine Freude verdient, opferte er ein Dutzend Scheite von dieser Sorte. Er war schon dabei, seinen Proust an der Stelle aufzuschlagen, an der er ihn am Vortag zugeklappt hatte. Eine entkorkte Flasche Chambertin wartete darauf, geleert zu werden. Ein großes Kristallglas stand auf dem Tisch bereit.
Jemand klopfte ans Türfenster. Es war der Richter Chabrand. Er trat ein, ohne zu grüßen.
»Ich habe Sie in der vergangenen Woche vergeblich gesucht«, sagte er in strengem Tonfall.
»Das überrascht mich nicht. Ich war in Abriès und anderswo.«
»Typisch. Meine Situation scheint Sie wenig zu kümmern.«
»Nun schießen Sie schon los! Worum geht es?«
»Ich fühle mich vom Justizministerium und von den Abgeordneten in die Mangel genommen; die wollen endlich Köpfe rollen sehen. Sie glauben ja gar nicht, was diese Mordfälle für einen Staub aufgewirbelt haben! Ihnen ist das natürlich ganz egal! Sie fahren einfach aufs Land! Nach Abriès! Und währenddessen machen die mich hier fertig!«
»Dafür sehen Sie aber hervorragend aus!«
Unter seinem legendären Carrick kam der lange magere Körper des Richters zum Vorschein, der in einem dunkelgrauen Anzug steckte. Um den Hals trug er eine Fliege. Statt einer Antwort zog er einen Brief aus der Tasche und reichte ihn Laviolette. Eigentlich war es ein Stück Pappe, nicht dicker als ein Schuhkarton, auf dem ein ungeschickt auf einer alten Schreibmaschine getippter Text zu lesen war. Er lautete:
Pénélope des Ormes lädt Sie aus Anlass ihres zwanzigsten Geburtstages zu einer Tanzveranstaltung ein. Kaltes Büffet, keine alkoholischen Getränke. Unkostenbeitrag 20 Francs. Château de Malefiance, Esclangon
Laviolette stieß einen langen Pfiff aus.
» Château de Malefiance!«, wiederholte er.
»Ja. Sie erinnern sich doch bestimmt noch an den Tattergreis mit seinen Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert. Sagten Sie nicht, er hätte Ihnen von der vierten Erbin der Familie Melliflore erzählt? Nun, das ist sie: Pénélope des Ormes! Allerdings nennt sie niemand so. Alle nennen sie bloß Isabelle, weil die Farbe ihrer Unterwäsche wirklich an die legendäre Isabella von Kastilien erinnert, sofern sie überhaupt welche trägt. Sie verstehen schon, was ich meine.«
Chabrand hatte sich gesetzt. Nun stand er auf und lief wild gestikulierend durch den Raum.
»Wir haben den Auftrag, sie zu beschützen (im Rahmen des Möglichen, denn den dazu abgestellten Beamten wirft sie leere Konservendosen an den Kopf). Stellen Sie sich vor: Sie ist das einzige noch lebende Mitglied der Familie. Jetzt, wo ihre Tanten tot sind, wird sie sich vor lauter Erbschaften gar nicht mehr retten können. Der Ball findet allerdings heute statt, an Heiligabend. Da werden Gendarmerie und Polizei anderes zu tun haben, als sich um so etwas zu kümmern. Also bleibt die Sache an mir hängen.«
»Ach du meine Güte!«, rief Laviolette aus.
»O ja, das können Sie laut sagen! Das ist eigentlich nicht meine Aufgabe. Aber ich habe da so eine Ahnung.«
»Sie?«
»Ja, ich! Sie haben mich lange genug mit ihren unfehlbaren Ahnungen eingeschüchtert. Nun bin ich an der Reihe!«
Er legte sich die Hand auf die Brust. »Es scheint wieder loszugehen. Seit Wochen, seit dem Tod von Violaine Maillard, ist alles friedlich. Und heute Abend gibt die letzte Überlebende der Familie einen Ball! Können Sie sich eine
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