Der Mörder mit der schönen Handschrift
sagte Laviolette.
»Ja, wissen Sie, was die Gerechtigkeit angeht, da lassen die Leute hier nicht mit sich spaßen.«
Laviolette nickte und murmelte: »Das weiß ich wohl.«
Er sah die junge, klare Erscheinung eines schwangeren Mädchens vor sich, der er am Ufer der Schlucht begegnet war, den Geist einer jungen Frau, die ein unnachgiebiger Onkel vor knapp hundert Jahren aus dem Lande gejagt hatte.
»Ich würde gern das Pfarrhaus sehen. Nicht von innen natürlich. Nein, nur die Türen, die Fenster. Das Fenster, das auf die Straße am Ende des Dorfs geht, bevor sie in die Landstraße mündet, die nach Süden aus dem Ort führt …«
»Das geht nicht«, sagte der Pfarrer. »An dem Ort, den Sie gerade beschreiben, stand das alte Pfarrhaus. Es war baufällig und ist in den zwanziger Jahren eingestürzt. Man hat ein neues gebaut, näher an der Kirche, näher an der Sonne.«
Er dachte einige Sekunden nach, und beobachtete Laviolette dabei.
»Komisch, dass Sie gerade darum bitten«, sagte er dann mit ruhiger Stimme. »Letztes Jahr im Sommer war nämlich ein Mann hier, der fast mit den gleichen Worten dieselbe Bitte geäußert hat.«
»Wie sah er aus?«
Zum Zeichen seiner Unwissenheit breitete der Pfarrer seine Arme weit aus: »Woher soll ich das wissen? Es kommen so viele Leute! Es war in der Kirche. Ein Freiwilliger machte eine Führung, ich habe so lange aufgepasst, dass niemand etwas mitgehen ließ. Der Mann kam im Halbdunkel auf mich zu und sagte … Na ja, mehr oder weniger das Gleiche, was Sie gerade gesagt haben.«
»Das war bestimmt mein Bruder«, sagte Laviolette. »Wir sind beide auf der Suche nach alten Erinnerungen. Sieht er nicht zufällig so aus?«
Flink zog er aus seinem Geldbeutel die postkartengroße Aufnahme des Porträts heraus, das er damals im Pavillon gefunden hatte. Ein Zauberer im Zirkus hätte einen Hasen nicht schneller aus dem Hut zaubern können.
Der Priester nahm die Karte und betrachtete sie lange. Er nickte mit dem Kopf und gab sie zurück.
»Ziemlich schwierig. Es war in der Kirche. Eine Gruppe von vielleicht zwölf Besuchern. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass er nicht so altmodisch aussah wie der Mann auf Ihrem Bild. Erstens hatte er eine Brille auf, soweit ich mich erinnern kann. Und zweitens trug er einen kräftigen, buschigen Schnurrbart. Der Mann auf dem Bild hier ist glatt rasiert. Aber jetzt, wo Sie fragen … Wenn ich richtig überlege … Ich hatte damals den komischen Eindruck, dass der Schnurrbart nicht echt war.«
»Die Brille genauso wenig, das können Sie mir glauben«, seufzte Laviolette. »Aber diese Beulen da! Diese Beulen und diese Dellen auf dem Schädel und die Segelohren! Das müsste einem doch auffallen, oder?«
»Nein! Wie sollte es auch? In der Kirche, und dann die Dunkelheit! Und die vielen Leute … Außerdem hatte er seinen Hut wieder aufgesetzt, als ich ihn dann draußen in der Sonne gesehen habe.«
»Wie groß war er ungefähr?«
»Weder zu groß noch zu klein, um irgendwie aufzufallen.«
»Hat er die Inschrift bemerkt?«
»Jeder bemerkt sie oder liest sie sogar flüsternd vor. Warum also nicht auch Ihr Bruder? «
Er sah Laviolette mit einem scharfen Blick an.
»Hören Sie«, sagte er, »so langsam frage ich mich, was Sie hier eigentlich suchen? Ich glaube im Traum nicht an die Geschichte von Ihrem Bruder. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, keinen einzigen, der tagtäglich das Bild seines Bruders in der Brieftasche mit sich herumgeschleppt hätte, es sei denn, dieser wäre im Krieg gefallen.«
Laviolette seufzte erneut.
»Sie haben Recht, mir nicht zu glauben«, sagte er. »Es handelt sich um eine viel dunklere Geschichte als die eines im Krieg gefallenen Bruders.«
»Mit was für Geschichten quälen Sie sich herum, Sie armer Mann? Jetzt wäre vielleicht die richtige Zeit gekommen, sie bei mir loszuwerden.«
Laviolette drückte einen Finger auf seine Lippen und zog sich langsam zurück. »Im Frühling komme ich wieder«, sagte er, »wenn die Schlüsselblumen zwischen den Schieferplatten des Daches wachsen. Nur so zum Vergnügen. Dann werde ich Ihnen alles erzählen. Wenn ich bis dahin etwas weiß …«
Er kehrte dem Pfarrer den Rücken zu und deutete mit der Hand einen Abschiedsgruß an. Dann ging er zu seinem Auto zurück. Er musste manövrieren, um wieder auf die Straße zu gelangen. Bevor er schließlich wegfuhr, warf er einen Blick auf die Kapelle im Rückspiegel. Der Pfarrer hatte sich nicht gerührt. Auf seinen Besen
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