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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Laviolette darüber im Klaren, welchen Weg er von Anfang an, ohne zu überlegen, eingeschlagen hatte. Er war so vertieft in seinen inneren Dialog, dass er dachte, ziellos umhergefahren zu sein.
    Erst jetzt nahm er die Landschaft ringsumher zur Kenntnis. Er hatte gerade nach rechts geblinkt, um abzubiegen. Mit einem Schlag war das Massiv des Pelvoux auf der linken Seite hinter einem Buchenwald verschwunden. Die grauen Steine der Festung auf dem Mont-Dauphin leuchteten schwach im kränklichen Licht der Sonne, und dort unten beim Zusammenfluss verlor sich der klare Guil in den bereits trüben Wassern der Durance.
    Unmittelbar darauf führte die Straße steil bergauf. Alles schien hier auf den Winter zu warten, der einfach nicht kommen wollte. Auf den Steilhängen unter den Felsen streckten Lärchenwälder, die schon alle Nadeln verloren hatten, ihre knochigen Äste zum Himmel. Heftige Stürme hatten unter ihnen gewütet, sodass nun faulende Stämme mit den Wurzeln nach oben die Abhänge bedeckten, manchmal waren sie auch von einer Lawine am Waldrand zu einem wüsten Haufen zusammengeschoben worden. Kaum ein heiteres Motiv war entlang dieser Felsrinnen auszumachen, so weit der Blick reichte.
    Laviolette fuhr durch das letzte ansehnliche Dorf auf der Südseite des Tals, mit seinen zahlreichen sonnenhungrigen Balkonen. Das Dorf war bereit für den Winter. Unter den Schutzdächern und den Treppen waren frisch gespaltene Holzscheite aufgestapelt. Dort, wo noch Platz zur Verfügung stand, waren Männer bei der Arbeit; sie bewegten die Sägen und schwangen die Äxte im Takt.
    Nach drei weiteren sanften Kurven hatte er plötzlich mindestens zweihundert Meter Höhe gewonnen. In der Haarnadelkurve, die er vorsichtig durchfuhr, bekam er ein letztes Mal den Pelvoux zu sehen, dann verschwand das Auto im Schatten. Die dunkelste Straße Frankreichs versuchte, sich hier einen Weg durch die Schlucht des Queyras zu bahnen. Versuchen war das Wort, das einem in den Sinn kam, sobald man weiterfuhr. Nach jeder Kurve, jeder Brücke, jeder Engstelle hatte man den Eindruck, dass es gleich nicht mehr weitergehen würde. Laviolette hupte fast ununterbrochen. Bei den Tunnelausfahrten fielen dicke Tropfen herab, die wie Spucke auf der Windschutzscheibe zerplatzten.
    Er befand sich im Land des Schattens und der überall austretenden Nässe, und von hier an glaubte Laviolette in jeder Kurve der schwer zu befahrenden Straße den Geist der Unbekannten zu erkennen, die vor mehr als hundert Jahren von ihrem Onkel aus ihrer Heimat vertrieben worden war.
    Sie war bestimmt ein stämmiges – vermutlich blondes – Mädchen gewesen, mit großen, festen Füßen in Männerschuhen, die für solche Märsche unbedingt erforderlich waren. Wie lange sie damals wohl schon schwanger gewesen war? Ob man es schon sehen konnte? Bestimmt, dem Bericht des Doktors Pardigon nach zu schließen. Laviolette stellte sich eine Frau mit erhobenem Haupt vor. Stolz? Vielleicht nicht. Eher einfach und sauber, mit einem Kopftuch und einem Bündel an der Spitze des über die Schulter gelegten Stocks, den die Gesellen damals auf ihrer Wanderschaft mit sich führten. Auf jeden Fall dürfte ihr klar gewesen sein, was man ihr da für einen üblen Streich gespielt hatte, und sicher hatte sie den Himmel um Gerechtigkeit angerufen.
    »Sie trug einen Melliflore aus Barles im Bauch«, sagte sich Laviolette. »Im Jahre 1860 oder 1861 … Was geschah damals in der Welt? Nichts, wie gewöhnlich. Die Franzosen wurden reicher. Die Unglücklichen schwiegen. Da hatte sich wohl niemand in diesem Tal gefunden, der das Mädchen bei der Hand genommen und ihr gesagt hätte, dass es Gott trotz allem noch gebe.«
    Das war nun wieder eines von diesen sonderbaren Bildern, die man ungeduldig aus dem Bewusstsein verbannt, um nur ja nicht in die Rätsel dieser Welt verwickelt zu werden: der dicke Mann mit den hervorquellenden Augen, der durch diese Gegend fährt um eines längst verstorbenen Mädchens willen, die er dann doch in jeder Kurve vor sich sieht, jung und klar, mit ihren genagelten Stiefeln Funken aus dem altertümlichen Pflaster schlagend.
    Laviolette hielt an einer Parkbucht, dort, wo die Schlucht am tiefsten war, um den Wassern des Guil zuzuhören. In der Zeit, die er brauchte, um sich eine Zigarette zu drehen, fuhr kein einziger Wagen vorbei. Er war allein mit dem Wildbach, der fünfhundert Meter tiefer dahinströmte, und fragte sich, was er hier zu suchen hatte. Beinahe wäre er umgekehrt, aber

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