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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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die wehrlose Frau, deren Geist nicht von der Straße weichen wollte, trieb ihn vorwärts, obwohl er selbst durchaus nicht wehrlos war.
    Eine Geschichte um jeden Preis aufklären zu wollen, die einen nichts angeht, zeugt von einer unangenehmen Charaktereigenschaft. Laviolette besaß sie in hohem Maße. Der Bericht des alten, aber dennoch zu früh verstorbenen Pardigon diente ihm als Reiseführer auf dem Weg in die Vergangenheit. Hier, wo die Wiege dieses ruhigen Mädchens gestanden hatte, daran konnte kein Zweifel bestehen, hatten die geheimnisvollen Ereignisse ihren Ausgang genommen, die sich derzeit in Digne abspielten.
    »Sie trug einen Melliflore in ihrem Bauch«, sagte er sich. »Und auch wenn er in einem Entbindungsheim der öffentlichen Fürsorge auf die Welt gekommen sein sollte, und auch wenn er und seine Nachkommen (sofern er welche hatte) niemals diesen Namen getragen haben, so war er doch ein Melliflore, mit allen Folgen, die sich daraus ergeben …«
    »Das hat doch mit deinem Fall überhaupt nichts zu tun!«
    »Woher willst du schon wissen, ob das etwas damit zu tun hat oder nicht? Hat man dir in der Schule nicht beigebracht, dass man jede einzelne Hypothese überprüfen muss, auch die verrückteste? Und siehst du, das tue ich. Diese verrückte Vermutung stammt ja nicht von mir, ich überprüfe sie nur! Das ist doch wohl mein Recht, oder?«
    Gegen Mittag erreichte er das Hochtal von Abriès. Die gemähten Wiesen waren menschenleer, das Vieh war bereits in den Ställen. Der Raum war so weit, dass der Guil hinter den Hügeln nicht mehr zu hören war. Auf den Bergen ringsumher glitzerte rinnendes Wasser, viel zu weit weg, als dass man irgendeinen Laut hätte vernehmen können. Die tiefen, schwarzen Geröllmulden empfingen von der schwachen Sonne nur wenig Licht und warteten ungeduldig auf den Schnee.
    Mitten im Talkessel, eng um eine Kirche geschart, auf deren Schutz sie angewiesen waren, von einem kanalisierten Wildbach in zwei Hälften geteilt, drängelten sich die Häuser von Abriès nach dem bisschen Sonne, das nicht für alle zu reichen schien.
    Weiter hinten auf den mit plattgedrücktem Gras bedeckten Hängen stand eine Kapelle mit blendend weiß gekalkten Wänden unter kahlen Pappeln. An dem sandigen Weg, der zu ihr hinaufführte, befanden sich einige kleine und hinfällige Kreuzwegstationen, die man von weitem für in der Sonne leuchtende Felsnischen gehalten hätte.
    Vor diesem strahlenden weißen Hintergrund machte sich ein Mann in Schwarz zu schaffen. Er hatte mehrere kleine Laubhaufen angezündet, deren Rauch senkrecht zum Himmel stieg. Der Mann hatte ein Auge auf das Ganze und stützte sich auf etwas, das wie ein Rechen aussah.
    Laviolette parkte den Wagen auf einem für die Einsatzfahrzeuge des Straßenbauamts reservierten Platz. Die Luft war sehr frisch, trotz der Mittagsstunde. Ein bisschen Wärme an einem Feuer könnte jetzt nichts schaden, meinte Laviolette. Außerdem fühlte er sich zu der Kapelle und dem schwarzen Mann davor hingezogen. Er ging zu Fuß über die Felder und stieg etwas kurzatmig den Pfad hinauf.
    Die Feuer brannten allein. Der Mann war verschwunden. Doch die Tür zum Altarraum stand weit offen, und man hörte, wie Möbel gerückt wurden. Laviolette trat in das Dämmerlicht ein. Der Mann mühte sich mit einem wurmstichigen Chorstuhl ab, den er auf einen anderen stellen wollte, um darunter fegen zu können.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Allerdings!«, antwortete der Mann. »Und nachher vielleicht noch mit den anderen, falls Sie noch eine Minute übrig haben sollten.«
    »Ich habe so viel Zeit, wie Sie wollen«, sagte Laviolette und packte die andere Seite des Chorstuhls.
    »Das trifft sich ja großartig!«, sagte der Mann.
    Er trug eine blaue Drillichhose und einen handgestrickten Pullover, an dem ein Metallkreuz befestigt war. Er war jung und untersetzt, hatte kräftige Schultern und ein rundes Gesicht.
    »Früher«, seufzte er, »da gab es die bigotten Weiber, und sie waren wegen ihres frommen Getues überall schlecht angesehen. Aber eines darf man nicht vergessen: Pünktlich um sieben standen sie da, mit Putzlappen, Bürste und einem Eimer voll kalten Wassers, um das Haus des Herrn in einen vorzeigbaren Zustand zu versetzen.«
    Er nahm den Besen und fegte mit einer raschen und energischen Bewegung über die jetzt freien Fliesen.
    »Nun sind die Frömmlerinnen aus dem ganzen Land verschwunden und putzen im Paradies weiter. Es gibt zwar noch fromme Frauen, strenggläubige

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