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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Autotür.
    »Wohin gehen Sie?«
    »Nach Barles. Denn dahin geht er auch!«
    »Aber Sie sind zu Fuß!«
    »Was soll’s? Man tut, was man kann. Das wird mir eine Lehre sein.«
    »Ich komme mit.«
    Chabrand stieg aus dem Auto und duckte sich mit unter den Regenschirm.
    »Halten Sie den Schirm! Sie sind größer als ich!«
    Sie waren nun dem Unwetter, das über der Schlucht wütete, schutzlos ausgeliefert. Das Gewitter zog immer engere Kreise über den clues. Hier schien es seine Bucht, seinen Hafen, sein Nest gefunden zu haben, wo es sich unbekümmert in vollen Zügen austoben konnte. Großartige Lichtgarben stiegen bis zum Gipfel des Blayeul und den Geröllfeldern der montagne de Chine in die Höhe. Die Blitze ließen die Wasserfälle, die in den senkrechten Rillen des wie Blätterteig aufgefächerten Schiefergesteins herabstürzten, in den Farben des Regenbogens aufleuchten. Die steilen Felswände der Schlucht warfen sich gegenseitig zu, was sie an Donnerhall nicht aufnehmen konnten. Die Blitze folgten einander in so kurzen Abständen, dass man nicht wissen konnte, welcher Donner zu welchem Blitz gehörte.
    Das Gewitter schoss mit spitzen Pfeilen nach dem schokoladenfarbenen Drachen, der sich bei näherem Hinsehen zur Verblüffung des Betrachters als Fluss herausstellte und für den das Bett des Bès nicht breit genug war. So begann er nun die Ufer abzuhobeln und schien dabei heisere Klagelaute auszustoßen. Die Erosion ließ sich bei der Arbeit zusehen und enthüllte ihre tiefsten Geheimnisse. Die Blitzschläge zwangen die beiden Verfolger auf eine kurvenreiche und immer wieder unterbrochene Bahn, da sie mal rechts, mal links, mal hinter ihnen oder vor ihnen einschlugen und geduldig darauf zu warten schienen, den einen oder anderen von ihnen endlich doch zu erwischen. Im flackernden Licht der Blitze zeigte sich etwa hundert Meter vor ihnen, in der Mitte der Schlucht, in dem knöchelhohen Wasser watend, das auf der Straße heruntergeschossen kam, die jämmerliche Gestalt mit der Pelzmütze und den Gamaschen, die mühsam ein Mofa mit abgestorbenem Motor neben sich herschob.
    »Sehen Sie! Er ist auch zu Fuß!«
    Stürmisch kam Laviolette unter dem schützenden Dach des großen Schirms hervorgeschossen.
    »Wohin gehen Sie?«
    »Sie sehen doch, wohin ich gehe!«
    »Aber was ist, wenn er bewaffnet ist?«
    »Bewaffnet!«, äffte Laviolette den Richter nach, »bewaffnet, womit denn wohl? So ein armer Teufel und bewaffnet!«
    »Verdammt, soll er doch gehen!«, dachte Chabrand.
    Selbst den unerschütterlichsten Charakter packt schließlich die Angst vor dem Blitz, wenn das Gewitter einfach nicht weiterziehen will, wie es jetzt der Fall war. So blieb Chabrand furchtsam wie festgenagelt stehen. Letztlich hing er eben doch am Leben. Es hatte ihm soeben gezeigt, was es zu bieten hatte, und das erfüllte ihn mit Respekt. Im Grunde seines Herzens, der einzigen noch trockenen und warmen Stelle seines Körpers, bewahrte er die Erinnerung an die Bajadere, die ihn so entschieden in Beschlag genommen hatte und mit der er – mein Gott, seither war nicht mehr als eine Stunde verstrichen – die Weihnachtsnacht gerne auf höchst angenehme Art beschlossen hätte. Stattdessen stand er nun hier, inmitten dieses tobenden Mahlstroms, wo die Natur eine Kostprobe eines Wahnsinns lieferte, demgegenüber sich der Wahnsinn der Menschen nahezu harmlos ausnahm. Nun war er also hier, in Gesellschaft dieses Laviolette, der keine Angst vor dem Tod hatte, aus dem einfachen Grund, weil er alt war. Denn dieser angeblich gute Freund des Menschen konnte noch so großartige Auftritte inszenieren, letztlich war es eben schlicht und einfach der Tod, mit dem man es hier zu tun hatte.
    Der alte Mann schritt unbeirrt voran, das Wasser reichte ihm bis zu den Knöcheln. Er beeilte sich; das Gewitter war ihm auf den Fersen mit dem kristallinen Klang eines im Winde schwankenden Kronleuchters, den nur die zu hören bekommen, die es mit seinem schönen Tod bedenken will. Was für eine Art von Schutzheiligen mochte dieser Mann nur angerufen haben, dass er nun der Gefahr mit so viel Gelassenheit ins Auge sah?
    »Neugierde!«, hätte Laviolette geantwortet, wenn der Richter ihm diese Frage gestellt hätte. Denn die Neugierde war es, die ihn vorantrieb. Er hatte genauso viel Angst vor dem Unwetter wie Chabrand und zog genau wie er das Genick ein, aber er musste unbedingt wissen, wer dieser Mann da vorn war.
    Etwa fünfzig Meter vor ihm schob dieses seltsame als Pionier

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