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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Puzzleteile mussten vor der Geburt dieses Toten als Vorbild für das Porträt gedient haben, das am Kamin des Pavillons im Park der Villa des Cèdres gehangen hatte.
    Im selben Augenblick, in dem er sich dieser Analogie (er mochte nicht von Ähnlichkeit sprechen) bewusst wurde, erinnerte er sich an eine scheußliche Szene, der er im Herbst in Barles beigewohnt hatte: Vor seinem geistigen Auge erschien ein Laubfeuer, das jemand mit einer Gabel anstachelte; jemand, der unbewegt zu einer Mausefalle griff, in der es von Feldmäusen wimmelte, und der die Tiere schließlich in die wieder aufgeflackerten Flammen warf.
    Laviolette beugte sich über diesen kümmerlichen Strunk verkohlten Holzes, der einst ein Mensch gewesen war. Um die versteinerten schwarzen Sehnen an seinem Hals glänzte im Schein der Blitze am Ende einer dicken Kette eine Uhr, die der unberechenbare Blitzschlag unversehrt gelassen hatte. Der Anhänger glich einer dicken silbernen Zwiebel, der dünne Zeiger zählte in alter Gewohnheit die Sekunden und bewies, dass er durch die elektrische Entladung noch nicht einmal beschädigt worden war. An der Kette war neben der Uhr noch mit Hilfe einer Spange ein Schlüsselbund befestigt.
    Laviolette griff den Schlüsselbund und löste ihn vorsichtig von der Kette. Er betrachtete die Rückseite der Uhr. Zwei verschnörkelte Buchstaben – ein A und ein R – waren dort eingraviert.
    »Adamastor …«, murmelte Laviolette. »Verdammt! Darauf hätte ich eigentlich kommen müssen.«
    »Was sagen Sie da?«, erkundigte sich Chabrand.
    »Kommen Sie, wir gehen nach Barles.«
    »Aber wie? Das Auto kriegen wir nicht so schnell wieder flott!«
    »Wir gehen zu Fuß! In dem Zustand, in dem wir uns befinden, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu marschieren, sonst holen wir uns den Tod. Halten Sie den Regenschirm. Los geht’s!«
    In diesem Augenblick ging ein gleißender Blitz auf die Erde nieder, und ein Feuerball, rund wie eine Billardkugel, fiel in den sich dahinschlängelnden Bès. Chabrand zuckte zusammen und begann zu zittern.
    »Mir ist so kalt«, erklärte er.
    Laviolette schlug ihm sanft auf die Schulter. »Sie können beruhigt sein. Die Chancen standen eins zu einer Million, und die Gelegenheit ist nun vergeben.«
    Er zeigte auf den Toten.
    »Auf geht’s! Die Gefahr ist gebannt! Zumindest wird sie anderswo auch nicht größer sein als hier. Und halten Sie die Trommel gut fest. Denken Sie daran: Ohne die Trommel werden wir nie auf die Lösung des Geheimnisses kommen.«

15
    SIE sahen Mitleid erregend aus, die beiden völlig durchnässten Männer unter ihrem geräumigen blauen Regenschirm. Erschöpft arbeiteten sie sich in der grenzenlosen Dunkelheit der Schlucht voran. Sie waren halb erfroren und mutlos; mit heftigem Schnaufen prusteten sie die Wassermassen aus, die ihnen fast waagerecht ins Gesicht klatschten und vor denen sie der Schirm kaum schützen konnte.
    Nicht einen Augenblick gewährte ihnen das Gewitter Schonung während der zwei Kilometer, die sie noch zurückzulegen hatten. Nicht einen Augenblick setzten die Blitze aus, die dicht hinter ihnen einschlugen und deren tückische Funken sich manchmal im Zickzack dicht am Boden zwischen ihren Beinen schlängelten. Nicht einen Augenblick wich der Fluch des sintflutartigen Regens von ihnen. Völlig betäubt vom Krachen des Donners und dem Tosen des Bès, hatten sie es längst aufgegeben, miteinander zu reden.
    Sie durchquerten den Tunnel vor Barles, was ihnen für kurze Zeit Erleichterung verschaffte. Die Lichter von Barles – hier war der Strom offenbar nicht ausgefallen – machten ihnen wieder Mut. Das Gewitter tobte jedoch weiter. Es hatte die Markise über der Terrasse der Grimaude in jämmerliche Fetzen verwandelt und schleuderte seine Blitze gegen den mit grünen und roten Glühbirnen behängten Weihnachtsbaum, den die betriebsamen Einwohner von Barles zwischen dem Denkmal für die Gefallenen und der öffentlichen Waage aufgestellt hatten.
    »Wissen Sie wenigstens, wohin Sie gehen?«, fragte Chabrand mit tonloser Stimme.
    Laviolette nickte, ohne zu antworten.
    Barles schlief den Schlaf des Gerechten. Für zweihundertneunzehn Einwohner von zweihundertzwanzig würde diese Nacht des Heiligen Abends zu den besonders ruhigen gehören. Man würde sich allenfalls an das gewaltige Gewitter erinnern, das die ganze Nacht über der Gegend gewütet hatte und dessen Toben man weich gebettet gelauscht und dabei genussvoll den Lavendelduft eingeatmet hatte, der den

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