Der Mörder mit der schönen Handschrift
Sitzgelegenheit vor dem Klavier einen leichten, verächtlichen Tritt. Dabei erklang ein tiefer, grollender Ton, der nach und nach die hintersten Winkel des Hauses Champourcieux erreichte, wie eine weit entfernte und dennoch bedrohliche Lawine. Starr vor Schreck blieb Ambroisine einige Sekunden lang stehen, die Augen auf das schwere, schwarze Umschlagetuch geheftet, das – engmaschig nach spanischer Art gehäkelt und somit völlig undurchsichtig – den Behelfssitz vor den Tasten bedeckte. Neben sich hörte sie den etwas keuchenden Atem Véroniques und wagte es nicht, sie anzusehen.
»Nicht sehr bequem, darauf zu sitzen, oder?«, sagte sie schließlich langsam.
Véronique hielt ihr Geheimnis hinter zusammengepressten Lippen zurück. Sie rang nervös die Hände.
»Da Sie schon alles wissen«, sagte sie endlich, »warum fragen Sie mich dann aus?«
»Alles?«, rief Ambroisine aus, »mit Sicherheit nicht alles!«
Mit einem kleinen, mit schwarzen Blumen gemusterten Taschentuch trocknete sie den feinen Schweiß, der zwischen Schminke und Haaransatz hervorperlte.
»Adieu!«, sagte sie unvermittelt.
Es war ihr klar geworden, dass sie – Platanen hin, Zedern her – hier nicht weniger Angst hatte als bei sich zu Hause.
»Adieu!«, wiederholte sie. »Ich sehe, dass ich von Ihnen heute Abend weder Trost noch Rat erwarten darf. Sie sind völlig in Brahms versunken, und er steckt ganz in Ihnen. Ich hoffe nur«, fügte sie bissig hinzu, »dass es wenigstens mit ihm heute Abend klappen wird!«
Sie machte eine Pirouette auf ihren hohen Absätzen und verließ das Zimmer im Laufschritt, umhüllt von raschelnder Seide.
Véronique hörte Ambroisines eilige Schritte erst auf der Treppe und dann in der Allee verklingen; alle zehn Schritte vertrat sich die Flüchtende auf dem schlecht gewalzten Straßenbelag den Fuß.
Véronique blieb unschlüssig neben dem Klavier stehen und blickte sich dabei im Zimmer um, als ob sie es noch nie gesehen hätte. Ein plötzlicher, unbewusster Impuls trieb sie in den Flur und dann zur Treppe.
»Ambroisine! Ambroisine!«
Jetzt war sie es, die schrill den Namen ihrer Cousine rief, und eine Flut von aus der Panik geborenen Verwünschungen, die sie ihr an den Kopf werfen wollte, stiegen in ihr hoch. Sie empfand ein unabweisliches Bedürfnis, sich auszusprechen, all das auszudrücken, was sich in Form unbegreiflicher Ängste auf dem Grund ihres wirren Denkens regte.
Sie nahm den Weg unter den Platanen hindurch, im stärker werdenden Wind. Sie lief bis zum Portal ohne Gitter.
»Ambroisine! Ambroisine!«
Sie wagte sich sogar auf den Bürgersteig des Boulevards. Ganz weit entfernt, mitten auf der verlassenen Straße, schien sich die schwarze Silhouette der Witwe immer noch abzuzeichnen. Sie wollte ihr hinterherlaufen. Aber dann wurde ihr bewusst, dass sie ihr Haus und alles was darin war seinem Schicksal überließ. Für gewöhnlich kam ihr diese Idee niemals, aber an diesem Abend trieb sie sie genauso schnell ins Haus zurück, wie die Panik sie hinausgejagt hatte.
Immer drei Stufen auf einmal nehmend rannte sie die große Treppe hoch und stürmte in den verlassenen Salon. Entschlossen und vorsichtig zugleich setzte sie sich wieder vor das Klavier, auf ihren Behelfssitz.
Sie atmete langsam und mit Bedacht. Sie presste ihre kräftigen Kiefer zusammen. Sie lauschte hinein in die Stille, die der Wind kräftig umrührte. Es war ihr unangenehm, ihrem Herzen zuhören zu müssen, das zum Zerspringen schlug. Mit seinem unregelmäßigen Schlagen ließ es das wilde Rauschen der großen Bäume im Garten noch lauter erscheinen.
Véronique wurde sich bewusst, dass drei von vier Kronleuchtern den leeren Salon unnötigerweise in eine Festbeleuchtung tauchten, für die es keinen Anlass gab. Sie erhob sich, ging zum Schalter und ließ nur die Lampe brennen, die sich direkt oberhalb der Tür befand.
Diese dem gesunden Menschenverstand entsprungene Maßnahme gab ihr die Ruhe zurück. Bevor sie sich wieder setzte, zog sie den Rollladen ihres Sekretärs hoch, öffnete eine der dreißig Schubladen und holte etwas heraus, das sie in der Hand abwog. Sie legte diesen Gegenstand auf die letzten Tasten der Klaviatur, die sie so selten wie möglich benutzte, da die dazugehörigen Saiten besonders stark verstimmt waren.
Es war einer jener kleinen Revolver mit Kolben aus Perlmutt und blauem Lauf, wie sie die Damen um das Jahr 1900 herum in ihrem Pelzmuff versteckten, um für alle Fälle gewappnet zu sein.
Véronique
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