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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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vernehmen, das bei Véronique Entrüstung hervorrief. Ihre Hände verkrampften sich auf den Tasten. Der Weinkeller! Er war der Stolz des alten Champourcieux gewesen. Hin und wieder hatte er aus ihm für selten eingeladene Gäste einige Flaschen heraufgeholt, die er triumphierend vorzeigte, als halte er das Allerheiligste in den Händen. Aber nach seinem Tod hatte sich niemand mehr den von feuchtem Staub bedeckten Flaschenregalen genähert; denn Véronique hatte nie Gäste und trank nichts außer Wasser. Der Gedanke, dass sich da unten jemand eine der Flaschen gönnen könnte, war ihr unerträglich. Sie stand auf, riss den Revolver an sich und ging entschlossen in Richtung Treppe.
    Aber dann machte sie das Quietschen der klemmenden Tür im Erdgeschoss, gegenüber dem Eingang, darauf aufmerksam, dass der Eindringling nicht lange im Vorratsraum geblieben war. sondern ihn nur durchquert hatte.
    Eilig nahm sie wieder Platz vor dem Instrument und begann erneut zu spielen. Jedoch tat sie es nur, um den Eindringling in Sicherheit zu wiegen. Aufmerksam lauschend begnügte sie sich damit, eine Note nach der anderen anzuschlagen. Sie nahm sich sogar die Zeit, den hochgeschlagenen Deckel kräftig mit dem Ärmel ihrer Bluse zu polieren. Dabei war sie darauf bedacht, das Mahagoni so zum Spiegeln zu bringen, dass sie den Türrahmen unter dem Kronleuchter darin erkennen konnte, in dem sich über kurz oder lang eine Silhouette zeigen würde. Ihrer Berechnung nach musste die Entfernung zwischen der Tür und dem Klavier etwa sechs Meter betragen. Es galt also abzuwarten und erst zu zielen, wenn man sicher war zu treffen …
    Manchmal streifte der verstohlene Blick der Pianistin den kleinen Revolver, der griffbereit am unteren Ende der Tastatur lag.
    Währenddessen kamen die Schritte die Treppe hoch. Nun hallten sie deutlich auf den Stufen wider. Es waren die Schritte eines schwer atmenden Mannes, der sich abquält und nicht sicher ist, ans Ziel seiner Mühen zu gelangen. Offenbar ein schwerfälliger, einfacher Mann.
    »Sie hatte Recht«, dachte Véronique. »Der Schritt eines Maurers oder eines Straßenarbeiters …«
    Plötzlich hörte sie die Schritte nicht mehr, dafür glaubte sie einen keuchenden Atem wahrzunehmen. Sie stolperte über eine tiefe Note. Sie sah prüfend auf den Klavierdeckel und stellte fest, dass er nicht groß genug war, um ihr zu erlauben, all das mitzubekommen, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Sie schloss das Notenheft, nahm es aus dem Pult heraus und legte es auf den Deckel. Ohne die Noten gab die Vorderseite des Instruments einen richtigen Spiegel ab. Man konnte darin den Kronleuchter erkennen, den Teppich, den leeren Raum hinter der offenen Tür, die ins Halbdunkel der Treppe führte.
    Véronique hatte keine Angst, Die Sorge um ihr Hab und Gut verlieh ihr Kraft und Mut. Außerdem war sie unsäglich neugierig auf das Wesen, das früher oder später hinter ihr auftauchen würde. Würde es ihr gleichen?
    Das Geräusch der Schritte setzte wieder ein, ebenso müde, ebenso ruhig wie vorhin. Der Eindringling stieg nun weiter die Treppe hoch, zu den Stockwerken mit den unbenutzten Zimmern und den Speichern, die voll gestopft waren mit Dingen, die man jäh aus dem Leben gerissen hatte und die nun unendlich viel Zeit dafür benötigen würden, niemandem mehr irgendetwas zu bedeuten.
    Sie stiegen höher und höher, diese Schritte, und manchmal stieß ein Fuß gegen eine zu hohe Stufe. Sie erreichten nun die zweite Etage. Ein Schalter wurde betätigt. Dann ging es weiter durch den langen Flur. Die Decke knarrte unter einem beachtlichen Gewicht.
    Die stockende Bewegung dieses unsicheren Ganges erfüllte Véronique mit Verwunderung. Sie hörte, wie seit dreißig Jahren geschlossene Türen geöffnet wurden und wie die Schuhe des schwerfälligen Unbekannten auf den Holzfußböden der leeren Zimmer herumpolterten.
    Dieses geduldige Nachforschen, diese Hausdurchsuchung empörte Véronique. Mehrere Male war sie kurz davor aufzustehen, ebenfalls hochzugehen, sich dem Eindringling entgegenzustellen und den kleinen Revolver, der ihr so viel Sicherheit gab, fest auf ihn zu richten. Aber sie widerstand der Versuchung, denn sie wusste nur zu gut, dass das sicherste Mittel, das Wertvollste ihres Besitzes zu schützen, darin bestand, vor diesem Klavier sitzen zu bleiben und mit Ruhe und Ausdauer die Melodie weiterzuspielen, die sie längst auswendig konnte.
    »Rutsch mir den Buckel runter, nicht mit mir!«, grollte sie halb

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