Der Mörder mit der schönen Handschrift
drückte ihren immer noch recht ansprechenden Hintern auf ihren Notsitz, als wolle sie ihn bebrüten.
Mit ein wenig zur Seite geneigtem Kopf, um die Töne besser zu hören, begann sie sehr leise, dort wo sie aufgehört hatte, die Melodie weiterzuspielen, die ihren Fingern so viel Widerstand entgegensetzte, ihr Herz hingegen mit Dankbarkeit erfüllte.
Seit dem Eindringen ihrer Cousine schien Brahms sie allerdings nicht mehr in die gleiche trostreiche Verzückung zu versetzen. Es gab überhaupt Tage, an denen eine dumpfe Verstimmung zwischen Véronique und ihren mystischen Geliebten trat.
So wurde die zarte und romantische Véronique zu einer reißenden Wölfin, sobald jemand nach ihrem Besitz trachtete. Da war nichts in ihrem Umkreis, kein Hundert-Franc-Schein, kein Topf mit Schildblumen, kein zerknülltes Rundschreiben auf dem Grund des Papierkorbs, keine Notiz auf irgendeinem Fetzen Papier, die sie ohne weiteres anderen überlassen hätte. Das war übrigens auch der Grund dafür, weshalb sie sich gegenüber Ambroisine so maßvoll in ihren vertraulichen Mitteilungen gezeigt hatte: aus reinem Geiz. Selbst die Angst war für sie ein unveräußerlicher Besitz.
Nun, wenn die Angst ein beachtliches Mittel gegen die Langeweile ist, so stehen ihr Habgier und Geiz als Mittel gegen die Angst in nichts nach. Seitdem sie ihren Besitz bedroht wusste, sah Véronique um zehn Jahre jünger aus.
Das Notenheft mit der Brahms-Sonate, das sie beim Eindringen ihrer Cousine hastig geschlossen hatte, öffnete sie nun wieder mit einer plötzlichen, ruckartigen und sogar ein wenig zitternden Bewegung, als ob sie befürchtete, den Brief darin nicht mehr wiederzufinden, den es enthielt. Seit drei Tagen war dieser Brief da, sorgfältig auseinandergefaltet und mit einer Heftklammer an den Seiten befestigt. Ordnungsliebend und geizig wie sie war, hatte Véronique auch den Umschlag mit angeheftet, dem sie den Brief entnommen hatte.
Es war ein Notenblatt aus sehr altem, vergilbtem Papier mit Wasserzeichen, die längst nicht mehr verwendet wurden. Drei Viertel der Notenlinien waren leer. Jemand hatte lediglich die beiden untersten Linien dazu benutzt, um in kursiver Schönschrift die folgende Sentenz niederzuschreiben:
Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.
Vielleicht zum zwanzigsten Mal las Véronique diese Worte. Lange betrachtete sie den Umschlag, auf dem ihre Adresse zu lesen war:
Mademoiselle Véronique Champourcieux 4, rue des Carmes Digne (Basses-Alpes)
Der Poststempel war sehr deutlich. Der Brief war vor sechs Tagen in Barles aufgegeben worden. In logischer Reihenfolge rief sich Véronique alles ins Gedächtnis zurück, was sie seit einiger Zeit beunruhigte.
»Mit mir nicht!«, murmelte sie.
Automatisch machte sie sich wieder daran, die Brahms-Sonate zu spielen, und es schien ihr, dass sie endlich, ohne es zu suchen, das ideale Tempo und gleichzeitig die Leichtigkeit des Anschlags gefunden hatte, die zu dieser Melodie passte, die durch ihre sanft resignierte Traurigkeit einnahm.
War es dank der plötzlich eingekehrten Stille? Das Brausen der Platanen war verstummt. Die Kühle der Nacht hatte dem Wind plötzlich die Kraft genommen. Er wehte noch schwach dicht über dem Gras und durch die Alleen, ohne den geringsten Laut.
Hinter dem Klangteppich der Musik nahm Véronique dann plötzlich ein anderes Geräusch wahr. Es kam aus den finstersten Tiefen des Gebäudes, von dort unten, wo sich die Walkmühlen und die Tanninbottiche befanden. Es klang wie der Aufschlag eines Werkzeugs auf gestampften Lehmboden.
Véronique blieb mit den Händen über den Tasten sitzen. Sie lauschte. Da war nichts mehr. Die Uhr von Saint-Jérôme schlug ernst die halbe Stunde.
Sie fing wieder an zu spielen, noch immer davon überzeugt, nun endlich zum wahren Wesen dieser Sonate vorzudringen. Aber sie empfand dabei nicht die geringste Freude. Eine Wut stieg in ihr hoch, die sie von Brahms entfernte.
Dann ertönte im Untergeschoss wieder das winzige, gedämpfte Geräusch, das die angespannt horchende Véronique jedoch sofort identifizierte. Auf der breiten in den Sandstein gehauenen Treppe, die von den Gärbottichen der Gerberei Champourcieux zu den Räumen der Walker führte, waren Schritte zu hören, die die Stufen hochkamen. Es klang wie ruhige, gelassene Schritte.
»Als ob es sein gutes Recht wäre!«, dachte Véronique voller Wut.
Die Tür, die zum Weinkeller führte, drehte sich in ihren Angeln und ließ ein Quietschen
Weitere Kostenlose Bücher