Der Mörder mit der schönen Handschrift
freilich, die Sie da hinter ständig offenen Türen wohnen, haben allen Grund, sich über mich lustig zu machen!«
»Warum sollte ich?«, sagte Véronique sanft. »Angst ist doch etwas ganz Natürliches.«
»Na, ich weiß nicht«, sagte Ambroisine. »Ich weiß nicht, ob meine Angst natürlich ist. Genauer gesagt weiß ich nicht, ob das, wovor ich Angst habe, wirklich etwas Natürliches ist …«
Sie stand neben ihrer sitzenden Cousine und kniete vor ihr nieder. Véronique sah ihre von roten Äderchen durchzogenen Pausbacken, ihre Nase, die eher komisch als sinnlich wirkte, und den Schmollmund mit den vom Lippenstift vergrößerten Lippen, der nicht zum Übrigen des Gesichts passte und ihm einen vulgären Anstrich gab.
»Das macht sie sicher mit Absicht«, sagte Véronique zu sich.
»Haben Sie einen Speicher?«, fragte Ambroisine mit leiser Stimme.
»Was für eine Frage! Natürlich habe ich einen Speicher! Und dazu noch viele andere Abstellräume.«
Véronique tätschelte sich die Haare mit einer gewissen Affektiertheit.
»Meine Behausung steht der Ihren ebenfalls in nichts nach.«
»Sicher!«, sagte Ambroisine. »Aber haben Sie jemals unter Zedern gewohnt?«
»Ich habe meine Platanen!«
»Natürlich! Sie sind nicht zu überhören, Ihre Platanen. Aber verglichen mit meinen Zedern ist das da höchstens Operette!«
»Dabei machen sie heute Abend einen recht beachtlichen Lärm.«
»Kein Vergleich mit meinen Zedern! Nicht umsonst kommt er immer dann, wenn sie sich im Wind wiegen. Er glaubt, das würde die Geräusche übertönen, die er macht.«
»Wer: ›er‹?«
»Derjenige, der sich nachts auf meinem Speicher rumtreibt.«
»Warum …«, begann Véronique.
Sie zögerte fortzufahren. Ihre liebe Cousine war ihr zu offenherzig. Die Angst wird umso schlimmer, je mehr man über sie redet. Ambroisine hätte das eigentlich wissen müssen.
»Warum«, nahm sie ihren Satz wieder auf, »warum kommen Sie, um mir das zu sagen, und warum ausgerechnet heute Abend?«
»Weil ich Angst habe!«, wiederholte Ambroisine.
Sie gab ihren Worten das nötige Gewicht, indem sie mit ihrer kleinen Faust auf den Deckel des Klaviers hämmerte.
»Ich traue mich nicht mehr allein nach Hause. Ich hatte zwar einen Liebhaber, aber der hat mich sitzen lassen. Im Übrigen wissen Sie ja, wie das so geht: Auch wenn Sie ungebunden sind, bleiben die nie die ganze Nacht. Irgendwann wird es denen zu eng im Bett. Und er, er kann warten … Bis ich allein bin. Nicht, dass er sich zeigen würde! Aber manchmal höre ich außer seinen Schritten auch seinen Atem. Er hält an. Macht kein Geräusch mehr. Aber ich weiß, dass er da ist, dass er mir auflauert, dass er wartet.«
»Und … was sucht er bei Ihnen?«, fragte Véronique.
Aufmerksam beobachtete sie das Gesicht ihrer Cousine. Sie sah, wie deren Blick gleichsam als Antwort schräg auf die Noten der Brahms-Sonate abglitt.
»Woher soll ich das wissen? Sie kennen sich doch selbst gut genug mit solchen Speichern aus. Da liegen Dinge rum, die jemand vor hundert Jahren dort hingebracht hat.« Wieder lief sie nervös auf dem Teppich herum, rang die Hände und gestikulierte beim Sprechen. »Zumindest hinterlässt er keine Unordnung«, sagte sie. »Ich weiß es, ich habe nachgeschaut.«
»So ein Speicher ist doch staubig. Haben Sie da nicht irgendwelche Spuren entdeckt?«
»Sicher, eine Menge! Im mittleren Durchgang! Zwischen all den Möbeln meiner Großeltern. Ich meine natürlich unserer Großeltern.« Sie hatte den Eindruck, als würde ihre Cousine leise kichern. »O ja, ich weiß«, sagte sie. »Meine Mutter ist bevorzugt worden. Aber was wollen Sie, sie hat sich eben um sie gekümmert, als sie alt waren.«
»Lassen Sie die Vergangenheit ruhen«, sagte Véronique. » Ich trage Ihnen nichts nach.«
»Wirklich nicht? Ich hatte eher den Eindruck … Wie dem auch sei, diese Möbel – wie soll ich mich ausdrücken? –, wenn Sie sie haben wollen, dann brauchen Sie sie nur abholen zu lassen!«
»Gott behüte!«, rief Véronique aus. »Finden Sie nicht, dass hier schon genug herumsteht?« Mit einer weit ausholenden Geste wies sie auf das gesamte Mobiliar, grundsolides falsches Biedermeier aus der Zeit um 1900. »Genau die Möbel, die zum Bühnenbild einer Oper von Meyerbeer passen würden«, sagte sie zu sich.
»Ich kann Sie verstehen«, seufzte Ambroisine. »Das ist alles dermaßen scheußlich. Ich frage mich wirklich …«
»Fragen Sie sich, was er sucht? Aber warum sagen Sie
Weitere Kostenlose Bücher