Der Mörder mit der schönen Handschrift
›er‹?«
»Na, wenn Sie diese Schritte gehört hätten, würden Sie nicht fragen! Das sind die Schritte eines Landsknechts, eines alten Haudegens, eines Laufburschen! Und im Übrigen habe ich seine Spuren gesehen: er trägt genagelte Schuhe! Grobe Schuhe. Solche … wie heißen die nochmal? Wie man sie beim Straßenbau oder beim Militär trägt.«
»Knobelbecher?«, schlug Véronique vor.
»Ja. Das ist es! Knobelbecher …« Sie presste sich krampfhaft die Hände an die Ohren. »Ich habe sie noch im Ohr!«, stöhnte sie.
»Eines steht jedenfalls fest«, sagte Véronique, »eben haben Sie noch zu mir gesagt: ›Ich weiß nicht, ob das, wovor ich Angst habe, etwas Natürliches ist.‹ … Nun scheinen mir allerdings Nagelstiefel …«
Ambroisine musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Als ob Sie nicht wüssten, dass die meisten Schrecken, von denen diese Welt voll ist, dazu im Stand sind, genagelte Schuhe anzuziehen, um uns in Sicherheit zu wiegen.«
»Sie haben heute Abend eine eigenartige Ausdrucksweise.«
»Ich habe Angst!«, wiederholte Ambroisine zum zweiten Mal.
»Schließen Sie sich ein.«
»Das ist leichter gesagt als getan. Die Tür der Speisekammer ist völlig wurmstichig. Außerdem klemmt sie. An der Waschküchentür fehlt eine Scheibe. Vom Gewächshaus, von dem eine Glastür ins Haus führt, gar nicht zu reden. Eine der albernen Ideen meines Mannes. Was wollen Sie da abschließen? Und außerdem kommt es vor, dass einer meiner ehemaligen Liebhaber völlig unvermutet gegen drei Uhr in der Frühe aufkreuzt, sei es, weil er niemand anderen gefunden hat, sei es, dass er sich an meiner Brust ausweinen will, weil seine Frau ihn betrügt.«
»Sie führen ein reichlich kompliziertes Leben …«
»Das stimmt! Aber so herrlich aufregend! Ich habe nie eine Minute für mich!«
Plötzlich, ohne eine Spur von Verlegenheit zu zeigen, pflanzte sie sich vor ihrer Cousine auf, um ihr genau ins Gesicht zu sehen.
»Ich frage mich, warum Sie mir nicht geraten haben, mich an die Polizei zu wenden?«
Nun war es an Véronique, auf die Noten der Brahms-Sonate zu schielen.
»Ich dachte mir«, sagte sie, »dass Sie schon Ihre Gründe dafür haben werden, es nicht zu tun.«
»Bewundernswert, diese Antwort«, spottete Ambroisine. »So was von zutreffend! Denn natürlich habe ich meine Gründe. Erstens sind Polizisten und Finanzbeamte wie ein Herz und eine Seele. Wenn man den Besuch der einen vermeiden will, sollte man auch den anderen möglichst aus dem Weg gehen. Niemand kann ganz sicher sein«, bemerkte sie mit Entschiedenheit, »dass nicht irgendwo ein blödes Papier herumliegt! Und außerdem …«
Sie schlenderte langsam durch das Zimmer, offensichtlich weniger nervös, da sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Aufmerksam horchte sie hinein in diese tönenden Tiefen des Hauses, das dreimal so groß war wie ihres und in dem – wider alles Erwarten – nichts vor sich ging.
»Und außerdem«, fuhr sie fort, »habe ich da noch eine reichhaltige Sammlung von pikanten Gegenständen, die man sich nur zulegen kann, wenn man allein lebt, denn sonst gäbe es sofort Ärger. Ich weiß schon jetzt nie, wo ich sie hinräumen soll, wegen der Putzfrau. Und dann die Polizei im Haus, stellen Sie sich das mal vor!«
»Sie reden zu mir wie in einem Beichtstuhl«, sagte Véronique. »Ich entdecke da eine ganz neue Frau. Ich hatte Sie zurückhaltender in Erinnerung.«
»Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, dass ich Angst habe?«
Véronique erhob sich gereizt und begann ebenfalls im Zimmer umherzugehen, den Blick auf die ernsten Gemälde gerichtet, die weiter hinten an den purpurrot tapezierten Wänden im Dämmerlicht verschwammen.
»Sie haben es schon dreimal wiederholt!«, rief sie aus. »Was kann denn ich daran ändern?«
»Sieh mal einer an!«, bemerkte Ambroisine. »Worauf haben Sie denn da gesessen? Haben Sie keinen Klavierhocker?«
Véronique brauchte einige Sekunden, um zu antworten. Es schien ihr – aber wie hätte man das sehen können? –, dass sie bis zu den Haarwurzeln errötete. Sie glaubte einen Funken von Triumph in den Augen ihrer Cousine zu entdecken.
»Er war ganz klapprig«, sagte sie, »ich habe ihn zur Reparatur gegeben. Da musste ich mich eben mit irgendeiner Sitzgelegenheit behelfen …«
»Deswegen hätten Sie aber nicht dieses schwarze Umschlagetuch darüber breiten müssen. Das sieht ja genau so nach Beerdigung aus wie ich!« Mit ihrem kleinen spitzen Fuß versetzte Ambroisine der ungewöhnlichen
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