Der Mörder mit der schönen Handschrift
»Und was ist Ihrem Großvater zugestoßen?«
»Ach das, das ist eine furchtbare Geschichte!«
»Setzen Sie sich!«, bot Laviolette an. »Trinken Sie was Kräftiges mit mir! Ich liebe Geschichten!«
Die Grimaude holte vom Tresen eine Flasche Kümmel und kam mit zwei kleinen Gläsern zurück, die sie randvoll einschenkte.
»Danke, da will ich nicht nein sagen. Ich trinke nur, wenn mich jemand dazu einlädt, und das kommt nicht gerade oft vor!«
»Also? Was war mit Ihrem Großvater?«, fragte Laviolette ungeduldig.
»Mein Großvater war ein schöner Mann, groß, gut gebaut, mit prächtigen Waden. Zumindest hat man mir das erzählt, ich habe ihn nicht gekannt; meine Mutter war dreiundvierzig, als ich zur Welt kam. Meine Mutter nannte mich ›mein Fibrom‹. Ich bin ein Wechseljahrekind. Mein Großvater aber war Postmeister, hier, in diesem Haus, das ich jeden Abend verbarrikadiere, und Sie werden gleich verstehen, warum!«
Sie rutschte mit dem Hintern auf dem Stuhl hin und her, wie jemand, der es sich für länger bequem machen will.
»Mein Großvater«, wiederholte sie, »hatte keine Fehler außer einem: Wenn er sich mit seiner Frau stritt (was ungefähr einmal im Monat vorkam), wandelte er nachts im Schlaf umher. Und wissen Sie, was er dann tat? Er warf sich in Schale, nahm seine weite rote, mit Tressen besetzte Jacke und seine blitzblanken Stiefel, er legte Sporen, Reitpeitsche und seine rote Reitkappe an und hängte das Posthorn, das er von seinem Vater hatte, an seine Seite. Das war seine große Uniform, die zog er nur an, wenn ein Postdirektor kam, als Ehrenbezeugung.
Und in solchen Nächten ging er dann zum Stall hinunter – den gibt es übrigens immer noch – und sattelte Bijou, sein Pferd. Und dann ging es los! Der Doktor Pardigon hatte gesagt, dass man ihm in diesem Zustand auf gar keinen Fall in die Quere kommen durfte, also ließ man ihn ziehen, was hätte man auch tun sollen? Er machte keine weiten Ausflüge. Eines Nachts war mein Onkel ihm gefolgt, um zu sehen, was er tat. Es war nichts Besonderes! Er ritt bis zu den clues hinunter, trieb sein Pferd zum Galopp an, und die ganze Zeit, während er die clues durchquerte, blies er aus Leibeskräften sein Horn, als wäre da eine Postkutsche, die Durchfahrt verlangte.
Tja, und dann, wenn er genug in sein Horn gepustet hatte, kam er wieder, brachte sein Pferd in den Stall zurück, hängte den Sattel an den Nagel, seine Uniform in den Schrank und legte sich wieder ins Bett. Meine Großmutter hat erzählt, dass er manchmal sogar genau da weiterschnarchte, wo er vorher aufgehört hatte, als er aufgestanden war. ›Als ob‹, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger, um uns noch mehr Angst einzujagen, ›als ob es nicht derselbe Mann gewesen wäre, der da aufgestanden war, sich angezogen hatte und weggegangen war; als ob zwischen dem Augenblick, als er aufgestanden war, und dem, als er sich wieder hingelegt hatte, nicht eine einzige Minute vergangen wäre! Ach, meine armen Kinder, man glaubt immer, die Welt ist nicht so schlimm! Bis man ihr in die Falle geht!‹
Sie hatte Recht, meine Großmutter, denn manchmal kann man genau mit ansehen, wie sich die Dinge entwickeln. Es war eine schöne Nacht, da fährt meine Großmutter aus dem Schlaf hoch, ohne zu wissen, warum. Sie streckt die Hand aus und berührt das kalte, leere Laken neben sich. In diesem Augenblick hört sie draußen ein Pferd wiehern. Sie steht auf und öffnet das Fenster. Draußen sieht sie Bijou, ganz allein und vollständig gesattelt, wie er unter dem Fenster den Kopf hoch wirft und wieder in den Stall zurück will.
Da geht auf einmal alles drunter und drüber. Ganz Barles wird aufgeweckt. Zwanzig oder dreißig Leute gehen in die clues hinunter, im Laufschritt. Sie finden meinen Großvater in seiner schönen roten Uniform, ausgestreckt am Ausgang eines Tunnels. Er sagt: ›Ich weiß nicht … Das Pferd hat auf einmal Angst gekriegt … Was tu ich hier eigentlich?‹
Sie legen ihn auf eine Trage und packen ihn ins Bett. Der Doktor Pardigon, der Vater von dem, der im Altersheim ist, kommt und sagt: ›Er hat sich an der Wirbelsäule verletzt. Er wird nie wieder gehen können.‹
Er ist nie wieder gegangen. Er saß in einem Rollstuhl, mit dem man ihn herumschieben konnte. Ich hab diesen Rollstuhl noch, irgendwo auf dem Dachboden. Und er sprach fast kein Wort mehr, er, der vorher so redselig gewesen war. Aber dann, natürlich erst nach einiger Zeit, kam seine wahre Natur wieder zum Vorschein. Er
Weitere Kostenlose Bücher