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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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fing wieder an, sich mit meiner Großmutter zu streiten. Und dann, eines Nachts, wird die ganze Familie – meine Mutter, ihre beiden Brüder, die Tante Clara, die bei meiner Mutter lebte, ihre Schwester, die Kleine von der Fürsorge, die man aus Nächstenliebe bei uns arbeiten ließ –, sie alle werden plötzlich von einem grauenvollen de profundis geweckt! Mit lauter Stimme gesungen, unterbrochen von Geschrei, Stöhnen, Flüchen und Schmerzensschreien. Und wissen Sie, wie? Auf Lateinisch! Wo der arme Teufel doch kein Wort Latein konnte!
    Na, und dann rennen alle ins Zimmer meines Großvaters und finden ihn mit gekreuzten Armen vor. Sein Gesicht ist ganz ruhig, und er hat die Augen geschlossen, aber er spricht! Auf Lateinisch! Mit einer ganz fremden Stimme. ›Eine Stimme‹, erzählte meine Mutter, ›wie die eines Predigers, wie die eines Mannes, der gelernt hat zu sprechen, der studiert hat, eine Stimme mit einem fremden Akzent. Und ich will auf der Stelle tot umfallen‹, sagte sie, ›wenn ich nicht die volle Wahrheit sage: Aus seinem Mund stieg Rauch auf. Und zwischen dem Stöhnen ahmte er manchmal knisterndes Feuer nach.‹ Der Doktor Pardigon zuckte dazu die Achseln: ›Das ist ganz normal‹, sagte er. ›Er kann nicht mehr gehen, also kommt seine Mondsüchtigkeit ihm jetzt zum Mund heraus. Da muss man nicht gleich an Teufelswerk glauben!‹
    ›Und obwohl wir nicht gerade gläubig waren‹, sagte meine Mutter, ›ließen wir eines Nachts trotz alledem ohne Wissen des Doktors den Pfarrer kommen, um zu erfahren, woran wir waren.‹ Du liebe Güte! Der Pfarrer, kaum ist er zur Tür herein und hört das, da fällt er schon auf die Knie. ›Mein Gott‹, sagt er zu uns. ›Lasst uns beten! Arme Seelen im Fegefeuer brauchen unsere Hilfe! Lasst uns alle niederknien und zum Herrn beten!‹ ›Nun ja‹, sagte meine Mutter zu mir, ›du weißt ja, wie das so geht. Wir haben einmal gebetet und dann haben wir uns dran gewöhnt … Ein Gutes hatte die Sache‹, sagte sie, ›seit diesem Vorfall gab sich meine Mutter alle Mühe, nicht mit ihm zu streiten. Aber manchmal überkam es sie einfach, und dann kamen wir wieder in den Genuss des Spektakels.‹ Das also war die Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat.«
    Die Grimaude stand auf. Sie holte hinter dem Ofenrohr unter dem Klassenfoto von 1928 eine Art alte Trompete von der Wand herunter, gelb und mit einer roten Troddel verziert, an der ein langes Lederband hing.
    »Sehen Sie, da«, sagte sie zu Laviolette. »Das ist sein Posthorn. Nachdem das alles passiert ist, hat mein Großvater noch achtundzwanzig Jahre gelebt. Sein Todeskampf hat acht Tage gedauert. Er hat phantasiert. ›Aber nie wieder so‹, hat meine Mutter gesagt. ›wie beim Schlafwandeln. Und nie wieder auf Lateinisch!‹«
    Sie hängte das Posthorn wieder auf und schaute beim Zurückkommen automatisch nach, ob der Riegel richtig vorgeschoben war.
    »Niemand«, sagte sie, »hat jemals herausgefunden, was es mit diesem ganzen Rummel wirklich auf sich hatte, noch was sich da unter der Oberfläche zusammenbraute, aber ich sage Ihnen: wenn eine Gegend fähig ist, solche Dinge auszubrüten, dann sollte man sich besser verbarrikadieren.«
    Die Grimaude schwieg. Sie lauschte auf die Geräusche des mitternächtlichen Barles.
    »Vor allem«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu, »vor allem, wenn auf der anderen Seite des Marktplatzes ein Behämmerter wohnt, der sein Grab schaufelt!«
    Eigentlich hätte er ihr antworten müssen, dass gegen diese Art von Ängsten keine Riegel helfen, aber er sagte sich, dass ihr die Angst wohl Vergnügen bereitete und ihr nachts den Liebhaber ersetzte, und so beschränkte er sich darauf, ihr eine gute Nacht zu wünschen.
    Er betrat ein Zimmer, das seit hundert Jahren das Lederzeug einer ganzen Armee ausgehungerter Handelsreisender zu Fuß oder zu Pferd hatte ertragen müssen. Während die Tapeten wohl häufig erneuert worden waren, bewahrte das Parkett aus dicken, grob zugeschnittenen Brettern unter dem Wachs die schwarzen Wunden, die ihm im Laufe des Jahrhunderts zugefügt worden waren.
    Allein schon das Bett war eine Welt für sich. Es war so fest gefügt, dass es dem, der darin lag, dabei half, den Trugbildern der Berge zu widerstehen, die ihn drohend umgaben – reglos, aber sehr lebendig, reglos, aber sehr wachsam.
    Auf dem Bett, einem Doppelbett, lagen zwei Kopfkissen und eine Daunendecke, alles so riesig, dass er hätte schwören können, dass schon jemand

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