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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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darin lag. Das Kopfende wies nach Norden, wie es sich gehörte.
    Laviolette betrachtete es vorsichtig und ging langsam darum herum, bevor er hineinsprang. Er kannte solche Hotelbetten nur zu gut, die man im Oktober in den Bergen zugewiesen bekam. Trotzdem stieß er einen Schrei aus, als er darin war, denn die Laken waren so kalt und feucht, als wären sie gerade in eiskaltes Brunnenwasser getaucht worden.
    Die Daunendecke ließ sich lange bitten, bis sie ihm schließlich die Wärme, die sie ihm geraubt hatte, hundertfach zurückgab. Er hatte genug Zeit, um über die füllige Posthalterin nachzudenken, und über den Grabschaufler, den charcutier d’amour sowie den Großvater der Grimaude, der nachts tief unten in den clues sein Horn blies. Und dann der Satz aus dem Evangelium: Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden – mehr als hundertmal hatte er schon das unerbittliche Rieseln einer Sanduhr aus ihm herausgehört. Er hatte auch Zeit zuzuhören, wie nach und nach die gewöhnlichen Geräusche des Alltagslebens im Haus und im Dorf verstummten. Bald blieb um ihn, der starr zwischen den Laken lag, nur noch das Schnarchen seiner Gastgeberinnen, das durch die schlecht schließenden Türen zu ihm drang und dessen Echo durch den langen Flur gehörig verstärkt wurde.
    Françoise gurrte wie eine Jungfrau, mit dem zarten Säuseln einer spärlichen Quelle. Die Grimaude dagegen brodelte unter ihrem Doppelkinn mit dem ruhigen, müden Atem von Frauen, die viel über sich hatten ergehen lassen müssen.
    Wenig später erwachte er unvermittelt mit einem unbehaglichen Gefühl. Er schwitzte, aber er wagte es nicht, sich zu bewegen, weil er die Kälte spürte, die um ihn herum lauerte. Der heulende Wind trug die Fetzen eines nicht enden wollenden Stundenschlags davon, der vom benachbarten Glockenturm herkam.
    Er nahm auch das leise Geräusch eines Mopeds mit sich, das auf der Straße vorbeifuhr und dessen Geknatter eine plötzliche Windböe erstickte.
    Wenn Laviolette auf die Idee gekommen wäre, seine Nase ans dem Fenster zu stecken, als dieses Fahrzeug am Hotel vorbeifuhr, vielleicht hätte er dann auf einmal einen Teil des Geheimnisses von Barles erraten.
    Aber wie hätte ein so vertrautes Geräusch, das die Ruhe draußen eher betonte als sie zu stören, in dieser kalten Nacht seinen Verdacht wecken können?

6
    MIT vor der Brust verschränkten Händen lauschte Ambroisine dem Heulen des Windes in den Bäumen. Deren schützende Zweige umgaben das Haus vollständig, als wollten sie es samt seiner Bewohnerin verschlingen. Ringsumher tanzten sie ihren Unheil verkündenden Reigen. Zum Zeitvertreib hatte man einst im Familienkreis an einem schönen Sonntagmorgen Ende April einige Zedern gepflanzt, wie es um 1860 Mode war. Vom obersten Absatz der großen Wendeltreppe beobachteten die Kinder damals mit Vergnügen, wie sie gediehen und wuchsen.
    Und was war nun an diesem Abend, über hundert Jahre später, daraus geworden? In einer Höhe von zwanzig Metern liebkosten sich dreißig Zedernwipfel im Lichte der benachbarten Straßenlaternen und summten dabei ihr trauriges, brausendes Lied; dahinter stand ein Zedernbataillon, düster und feierlich zugleich, wie eine Patrouille in Tod und Kälte erstarrter Richter, und schließlich, noch etwas weiter, ein Karree graugrüner Zedern, die, eingepfercht in die verrosteten Gitter dieses parkartigen Gartens, im Chor brüllten wie Herdenvieh.
    Platanen im Wind veranstalten ein munteres, spielerisches Getümmel, das einen guten Tag verspricht; Zedern hingegen halten feindselig über die Menschen Gericht. Sie jagen ihnen nach und bannen sie mit den langsamen, weit ausholenden Gesten ihrer gespenstischen Zweige.
    Voller Angst achtete Ambroisine hinter den Scheiben auf ihr verzweifeltes Winken. Was sollte das heißen? »Bleib nicht hier! Geh weg! Verlass dieses Haus! Gib auf!«
    Sie wandte sich um und rang nervös die Hände. Der große Salon lag im Dämmerlicht versunken. Nur mit Mühe konnte man auf den Couchtischchen noch die Umrisse der Teeflecken erkennen, die die Freundinnen vor dem Weggehen hinterlassen hatten. Vor kurzem hatten sie hier noch Tee geschlürft und sich mit lustvollem Grauen an den Katastrophen geweidet, die ihnen die Welt zur Zerstreuung anbot.
    Noch nie waren Ambroisine der Salon und seine Nebenzimmer dermaßen düster vorgekommen.
    Als ihre Eltern die Villa um 1925 renovieren ließen, hatten sie dem Dekorateur freie Hand gelassen. So erschienen auf Wänden und

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