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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Möbeln nur die bevorzugten Motive jener Epoche: Äpfel und Orangen, Frauenprofile mit Bubikopf. Die Wanduhren, Lampen, Blumenkästen und Vasen waren mit Stuck verziert wie die Ausstattung eines Friedhofs. Nur Ambroisines Bett war davon ausgenommen; in einen mit Eisen vergitterten Alkoven eingesperrt, zwischen Marmorsäulen, die mit Pfirsichblüten gesprenkelt waren, glich es der Grabstätte einer adeligen Dame.
    Man konnte keinen Schritt tun, ohne in grau verrauchten Spiegeln, die in sorgfältig geschmiedeten, durchbrochenen Eisenrahmen steckten, auf sein eigenes Bild zu stoßen. Seit der Ermordung ihrer Cousine konnte Ambroisine es nicht mehr ertragen, sich ständig mit ihrem Spiegelbild im Witwenkleid konfrontiert zu sehen. Sie hatte sich unverzüglich eine amarantrote Kombination anfertigen lassen, die sie gerade den begeisterten Freundinnen zum ersten Mal vorgeführt hatte. Auf ihren Lippen lag noch ein entzücktes Lächeln.
    Doch nun erhob sich der Wind, und man hörte das Knacken der schweren Zedernäste. An einem solchen Abend hatte vor kaum zwei Wochen Véronique an ihrem Klavier den Tod gefunden. Sicher hatte sie zuvor, wie Ambroisine selbst, diesen letzten Brief erhalten, auf den sich niemand außer den beiden Cousinen einen Reim machen konnte. Ängstlich forschend blickte sie in den dunkler werdenden Himmel. Die Dunkelheit breitete sich schon langsam unter den Bäumen aus. Die Zedern erdrückten das Haus, und das Haus erdrückte Ambroisine. Wenn sie jetzt keine Verabredung traf, würde sie heute Abend allein sein, darüber war sie sich im Klaren. Nicht dass es ihr in letzter Zeit an Liebhabern gefehlt hätte, doch Liebhaber sind wie Raben, sie sind ganz entschieden auf ihr eigenes Wohl bedacht. Kaum kommt ihnen etwas in die Quere, so erheben sie sich mit trägem Flügelschlag und suchen das Weite. Véroniques Tod hatte genügt, um den Liebhaber Ambroisines aufzuscheuchen.
    Allein … Allein mit diesem knisternden Brief zwischen ihren Brüsten, den sie niemandem zu zeigen wagte und dessen Sinnspruch sie auswendig konnte, jenes unumstößliche Urteil, bei dem es keine mildernden Umstände gab:
    Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.
    Ambroisine rannte die Treppen zum Obergeschoss hinauf. Geräumige, reich ausgestattete, kirschfarbene Zimmer; genügend Platz für die sieben oder acht Personen, die einst dort gewohnt hatten. Und man hatte den Eindruck, dass all diese leeren Räume immer noch ungeduldig auf die Rückkehr der Bewohner warteten, obwohl sie längst tot oder in alle Welt zerstreut waren, als wollten die Räume immer und immer wieder den Klang ihrer Stimmen und die unumstößliche Sicherheit ihrer Lebensgewohnheiten in sich aufnehmen.
    Ambroisine blieb auf dem Treppenabsatz vor dem langen Korridor stehen. Sie schaute zur Decke hinauf, über der sich ein Speicher ohne Trennwände befand. Dieser hallende Raum mit dem Gebälk eines Schiffsrumpfes erstreckte sich über die ganze Länge des Gebäudes.
    »Genauso groß wie der Ihre«, hatte sie gegenüber Véronique behauptet und dafür nur ein herablassendes Lächeln geerntet. Nein, so groß wie der Speicher der Champourcieux war dieser nicht. Aber war das denn nötig? Er hätte genau wie jener andere den Kern des Rätsels enthalten können.
    Hier oben klangen die Zedern anders. Sie umzingelten das Haus nicht länger. Sie schwebten über ihm und ließen das Geräusch von Flügelschlägen vernehmen. Mal schlug, mal streifte einer der vom Wind niedergedrückten Zweige das Dach, als wolle er die Ziegel begütigend streicheln. Dennoch war dieses Reiben und Schaben, das manchmal gar nicht aufhören wollte, noch schwerer zu ertragen als das markerschütternde Heulen, das kurz zuvor durch die Fenster des Salons zu Ambroisine gedrungen war.
    Rasch flüchtete sie in ihr Zimmer. Sie riss die Tür des Kleiderschranks auf. Sie nahm den Mantel ihrer amarantroten Kombination vom Bügel, der so schön von ihren Schultern herabfiel. In ihrer Flatterhaftigkeit ließ sie sich vom Geruch des neuen Stoffs ablenken und vergaß für einen Augenblick ihre Angst. Sie wich dem Blick ihres Spiegelbilds aus, als sie sich hastig vor dem Spiegel zurechtmachte. Fast rennend, mit wild schlenkernder Schultertasche, rannte sie den breiten Korridor entlang, hastete die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und trat, ohne die Lichter im Hause auszuschalten, auf die Freitreppe hinaus.
    Fieberhaft tastete sie im Dunkeln, bis sie endlich das Schlüsselloch der schmiedeeisernen

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