Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
Rosans, wie man sie zu nennen pflegte, obwohl sie verheiratet waren und Kinder hatten, waren vier Generationen lang immer im Schatten dieses Schildes tätig gewesen. Das Geschäft war jeweils von der Mutter auf die Tochter übergegangen. Eine Tätigkeit, die auf klare Ziele ausgerichtet war: zunächst, um das nötige Geld zum Bau der riesigen Villa zu verdienen, dann, um das Gebäude, in dem sich die Boutique befand, zu kaufen nebst einigen anderen Gütern, von denen man besser kein Aufhebens machte, aus denen sich jedoch ein ansehnlicher Profit ziehen ließ. An jenem Abend entfaltete das Schild in seinem unteren Teil nicht seine volle Wirkung. Ein großer unförmiger Stapel unterschiedlichster Dinge war so davor aufgehäuft worden, dass die letzte, einst so wichtige Zeile nicht zu lesen war: Sehr günstige Preise.
    Verärgert machte Ambroisine ein Paar Schritte nach vorn, wobei das Parkett unter ihrem Gewicht bei jedem Schritt quietschte. Die Überraschung entlockte ihr einen Schrei, und sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihn zu ersticken.
    Der große schwarze Schrank direkt vor ihren Augen – der Stolz der Demoiselles Rosans, der Hauptzeuge für ihre vielfältigen Talente und Hüter all ihrer Berufsgeheimnisse –, dieser Schrank stand mit weit geöffneten Türen da. Die Kartons waren aus den Fächern gerissen worden und lagen geöffnet oder aufgeplatzt auf dem Boden und hatten die Meisterwerke, die sie enthielten, ausgespuckt. In burlesker Anordnung lagen sie zerstreut auf dem Boden, auf die Seite gekippt oder mit keck hochgebogener Krempe, so als ob die Köpfe von einst noch unter ihnen meditierten.
    Alles, was von der Erfindungskraft der Rosans-Töchter übrig geblieben war, all die kühnen Kreationen, die gewisse Kunden aus Schüchternheit oder aufgrund eines Schicksalsschlags nicht tragen konnten, wollten oder nicht zu tragen wagten, lag nun auf dem Boden verstreut, bewegte sich im Luftzug unter dem schwachen Licht der Glühbirnen.
    Mit ihren Farben – Altrosa, Dunkelgrün oder dem Rotviolett herbstlicher Dahlien – erinnerten sie an ein Gartenbeet aus längst vergangenen Zeiten. Außerhalb ihrer leichten Kartons lagen sie da wie ausgebrütete Eier, alles ausgefallene Launen der Mode: Eine Rohrdommel mit ausgebreiteten Flügeln – der weit geöffnete Schnabel zeigte ihre rote Zunge – verteidigte noch ihr Nest gegen irgendeinen Eindringling auf einem italienischen Damenstrohhut. Daneben lagen mit Zwergtrappenfedern verzierte Jagdfilzhüte, rosa Glockenhüte, mit einer einfachen Heckenrose bestückt, freche Kappen nach Art der Pariser Kabarettisten sowie frühlingshafte Kreissägen für impressionistische Maler. Doch all das wurde von einem Gebilde übertrumpft, das aus einem Karton gefallen war, der doppelt so groß war wie alle anderen: von einer kegelförmigen Witwenhaube, deren quadratisches Gesichtsfeld mit einem Schleier versehen war. Die Männer der damaligen Zeit musste ein leichter Schauder ergriffen haben bei dem Gedanken an das Gesicht, das sich hinter diesem Schutzwall verbergen mochte, den eine unbeugsame und nunmehr auch gegenstandslose Treue gegen alle begehrlichen Blicke errichtet hatte. Dieses Sinnbild des Todes, das über dem charmanten Durcheinander voller Hochmut herrschte, erschien Ambroisine so bedeutsam, dass sie für einen Augenblick davor erstarrte.
    So hatte er also auch diesen Ort erreicht, der gesichtslose Feind, der manchmal so viel Lärm machte. Der Feind, der sich Véronique und ihr angekündigt hatte und dessen letzter Brief ihre Bluse ausbeulte. Dieser Brief faszinierte sie so sehr, dass sie ihn, sofort nachdem sie wieder angezogen war, ins Dekolleté zurückgesteckt hatte.
    Sie legte ihre Hand darauf, als ob er ein Talisman wäre, der das drohende Unheil abwenden könnte. Doch dieser Schutz schien nicht auszureichen, denn Ambroisine hatte den Eindruck, als helle sich das Halbdunkel am anderen Ende des Speichers, hinter den Hüten und dem Firmenschild, nach und nach ganz von selbst auf. Im trüben Licht des Mondes, das sich seinen Weg durch den Schmutz der von Spinnennetzen überzogenen Dachluke bahnte, sah sie eine Art Form; eine undefinierbare Masse, ohne Konturen, die jedoch – möglicherweise – an eine menschliche Gestalt erinnerte. Rings um dieses Irrlicht stieg eine undeutlich sichtbare Staubwolke empor.
    Wie schrecklich war das doch alles, dieser einst von Sonnenlicht durchflutete Speicher, wo sie als Kind so oft zwischen den alten Sachen Verstecken

Weitere Kostenlose Bücher