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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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gespielt hatte und der nun plötzlich nicht wiederzuerkennen war. Es schien, als habe er seine Maske abgenommen und zeige nun sein wahres Gesicht, voll von Heimtücke und Böswilligkeit.
    Sie wich zurück, und im selben Augenblick bewegte sich das körperlose Licht dort hinten, vermehrte sich, breitete sich aus, fiel auseinander, sammelte sich wieder zu einer strengen, schillernden und in Regenbogenfarben schimmernden Unbeweglichkeit. Währenddessen strichen die Zedernäste zärtlich im Takt über das Dach.
    Ambroisine wollte fliehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um, um zur Tür zu stürzen. Doch tief im Inneren dieser kostbaren Schale, die sie als eine zarte, hilflose Frau erscheinen ließ, machte sich die Entschlossenheit der geizigen Melliflores bemerkbar, die immer bereit waren, ihr Erbe hart zu verteidigen, sei es gegen Hexerei, Pest und Cholera oder auch nur gegen den Zorn Gottes, an dessen Allgegenwart die Leute dieser Gegend gewöhnt waren.
    Dieses Gefühl, der Gedanke, ihre ganze Habe, ihr Eigentum, alles, was ihr gehörte, ohne Kampf der Begierde eines anderen zu überlassen, hielt sie zurück. Auflehnung und Gerechtigkeitssinn waren stärker als ihre Angst. Sie verliehen ihr die Kraft, sich umzudrehen und mit festen Schritten auf die Regale zuzugehen, in denen die Erinnerungen an die alten Zeiten schlummerten. Diese Regale standen senkrecht zur ersten Glühbirne, und Ambroisine wusste ganz genau, was sie dort finden würde. Es war ein schönes würfelförmiges Paket, von beträchtlichen Ausmaßen, in Packpapier gewickelt und gründlich verschnürt, auf dem die Worte: Hüte meiner Mutter mit Filzstift geschrieben waren.
    Dieses Paket stand neben einer Briefträgertasche aus Rindsleder, die offen stand wie bei der täglichen Runde des Postboten. Eine fröhliche Runde offenbar, denn aus der Tasche schauten eine Reihe von calendriers des postes heraus.
    Zu Ambroisines Rechten baumelte zwischen Decke und Boden nachdenklich eine Schaufensterpuppe ohne Beine, die in der vollständigen Uniform eines Postbeamten steckte. Es war eine sehr alte Uniform; sie bestand aus einer Jacke mit goldenen Knöpfen, einer hellblauen Hose mit marineblau abgesetzten Nähten und einer Schirmmütze mit Kokarde. Dieses Ensemble aus einer Jacke ohne Arme, einer Hose ohne Beine und einem képi ohne Kopf, das auf einer Hutform aus gebogenem Rohr saß, drehte sich langsam im schwachen Lufthauch und schien der erstarrten Ambroisine einen Rat ins Ohr flüstern zu wollen.
    Von einer plötzlichen Intuition ergriffen riss sie das dicke Paket an sich und schloss es fest in die Arme. Sie stürzte zur Tür, öffnete sie, schloss sie hinter sich, drehte den Schlüssel herum und ließ sich erschöpft und bebenden Herzens auf die erste Treppenstufe fallen. Doch bevor sie die Tür hinter sich schloss, bemerkte sie noch, wie sich etwas im hintersten Teil des Speichers unter der Dachluke widerspiegelte, ein Etwas, das sich genauso schnell bewegte wie sie selbst. Als sie dann die Tür wieder geschlossen und sich auf die Stufe gesetzt hatte, begriff sie, dass sie das Opfer einer nicht zuletzt durch den genossenen Alkohol hervorgerufenen Sinnestäuschung geworden war. Ganz dort hinten unter der Dachluke befand sich nichts weiter als ein alter, länglicher, mit Flecken übersäter, schadhafter Ankleidespiegel, der ihr die ganze Zeit über ihr eigenes unvollständiges, durch das rote Zwielicht der unzureichenden Beleuchtung verzerrtes Bild gezeigt hatte. Sie atmete erleichtert auf und stützte sich mit beiden Armen auf die würfelförmige Schachtel.
    Doch die Unruhe ließ sie sofort wieder zitternd aufspringen. Sie überlegte sich, dass, sollte der Eindringling auf dem Dachgeschoss nur in ihrer Einbildung existieren, derjenige, der sich soeben in der Waschküche bemerkbar gemacht hatte, umso wirklicher sein musste, und in diesem Fall war keine Zeit zu verlieren.
    Ständig darauf gefasst, dass sich ihr bei jeder Biegung der Treppe jemand in den Weg stellen konnte, rannte Ambroisine auf ihren hochhackigen Schuhen die beiden Stockwerke hinunter.
    Schwungvoll öffnete sie die schwere, mit bunten Glasscheiben und geschmiedeten Gitterstäben versehene Tür und stützte dabei ihre Last mit dem Knie ab. Nachdem sie das Paket auf dem Geländer abgestellt hatte, drehte sie den Schlüssel zweimal sorgfältig herum. Der trügerische Eindruck, ihre Angst auf diese Weise in der Villa eingesperrt zu haben, entriss ihr einen Seufzer der Erleichterung.
    Doch dann geriet

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