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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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ihrer vierzig Jahre, zu denen sich Ambroisine ohne Umstände bekannte, war die Haut auf ihren Backenknochen straff und glatt. Ihre Augen waren hell, nur auf dem Grund der Iris, rings um die klar abgegrenzte Pupille, funkelten undeutliche grüne Reflexe. Jahre, ja sogar Jahrzehnte später, im Laufe seiner sehr banalen Existenz, sollte ihn dieser ängstliche Blick noch verfolgen, ihm keine Ruhe lassen, sollte ihn sein Gewissen quälen, weil er diesen Hilferuf nicht gehört hatte – oder vielleicht auch nicht hatte hören wollen –, immer wieder würde er alle guten Gründe wegfegen, die er sich damals zur Rechtfertigung seines Verhaltens zurechtgelegt hatte.
    Doch im Augenblick hinterließ die Liebe, die er soeben genossen hatte, bei ihm einen unheimlichen Nachgeschmack. Er hatte nur einen Wunsch: sich so schnell wie möglich von dieser Partnerin loszureißen, die ihn mit ihren etwas perversen Zärtlichkeiten immer länger bei sich zu behalten drohte.
    Es war der richtige Augenblick, an Frau und Kinder zu denken. Er stand auf, um seine Flucht vorzubereiten. Er schlich durchs Zimmer, um zwischen den Möbeln nach seinen Kleidungsstücken zu suchen, die er im Eifer des Gefechts wahllos im ganzen Raum verstreut hatte. Sein Schwanz zeigte munter in die Höhe, als er mit seiner Suche begann, aber unter dem eisigen Hauch der Angst fiel er schnell in sich zusammen. Besonders die Socken ließen sich nicht leicht finden, bis er sie schließlich an der Wanduhr hängend entdeckte.
    Verächtlich folgte Ambroisines Blick seiner Silhouette. Nun, da alle Lust verflogen war, erschien er ihr lächerlich wie ein dressierter Affe: die schwarzen Haarbüschel, die unordentlich aus der Kerbe seines Hinterteils hervorquollen, die schlaff hängenden Hinterbacken und dieser alberne Bocksbeutel zwischen den O-Beinen, kurz und gut, all die Dinge, auf die sich ein Mann, besonders von hinten gesehen, nichts einzubilden braucht.
    Er murmelte einige entschuldigende Worte: Es sei schon spät, und überhaupt, was würden die Leute sagen und vor allem seine Frau, wenn sie entdeckte, dass der Platz neben ihr im Ehebett verwaist war. Einmal mehr (denn es gibt mehrere solcher Momente im Leben einer Frau) musste Ambroisine erkennen, wie die Männer sind: immer bereit, die Hand abzuhacken, die sich am angeblich vollen Rettungsboot festklammern will. Sie wusste, dass er, obwohl er sie in einer tödlichen Nacht ihrem Schicksal überließ, alle guten Argumente der Alltagslogik auf seiner Seite hatte.
    Nackt, seine Klamotten in einem Knäuel gegen seinen Bauch gepresst, verließ er das Zimmer in der Hoffnung, sich irgendwo anders wieder anziehen zu können, weit weg von diesem in den Zedern heulenden Wind. Schließlich überlegte er sich, dass es sich gar nicht lohnte, sich anzuziehen. Er warf alles ins Auto und schlug die Tür hinter sich zu. Die Angst saß ihm im Nacken, als er mit aufheulendem Motor davonfuhr.
    Solange ein lustvoll keuchendes Paar sie ausfüllte, hatte sich die Stille zurückgezogen, nun schlug sie wieder über dem Haus zusammen und wurde sogleich von einem undeutlich wahrnehmbaren Schlurfen rhythmisch unterbrochen.
    »Ich muss verrückt sein, einfach so liegen zu bleiben!«, sagte sich Ambroisine.
    So: das bedeutete auf dem Rücken ausgestreckt in dem großen Bett, die Arme über der Brust gekreuzt, reglos wie ein vor Angst sabberndes Lamm, ohne Erinnerung an die Zärtlichkeiten, die ihr gerade noch so viel Sicherheit gegeben hatten.
    Sie sprang aus dem Bett. Sie zog sich von Kopf bis Fuß wieder an, einschließlich der Strümpfe und der hochhackigen Schuhe, die ihren Hintern ins rechte Licht rückten. Sobald sie fertig war, begann sie zu horchen.
    War es die Brandung der Zedern? Das klägliche Quietschen der Wetterfahne, die den Launen des Windes ausgeliefert war? War es dieses Knirschen eines in Seenot befindlichen verzweifelten Schiffs, das sich jeden Herbst von neuem unter dem Dachboden der unbequemen und protzigen Villa vernehmen ließ? Nein, das war es nicht. An all das war Ambroisine seit ihrer Kindheit gewöhnt. Nein. Das einzige Geräusch, das ihrem Ohr seltsam vorkam, war ein durch all diesen Lärm hindurch hörbares, undefinierbares Schlurfen, das von ganz da unten, vom nach Norden gelegenen hinteren Teil der Villa herkam. Aus der Richtung der wurmstichigen Waschküchentür, die unter dem Schatten der großen Bäume im Laufe der Zeit verrottet war und deren Reparatur sie aus falsch verstandener Sparsamkeit immer wieder

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