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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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musste er nur noch den Riegel eines wackeligen Schlosses zurückschieben, um auf den Treppenabsatz des Kellers gegenüber dem Büro zu gelangen. Es blieb ihm noch die Treppe und der Flur, dann würde er vor Ambroisine stehen und sie würde endlich wissen, wer er war.
    Von neuem wurde sie von Panik ergriffen und verlor jede Orientierung. Das, was sie der Gier des Unbekannten entziehen wollte, war wohl doch nicht sicher genug versteckt. Ohne zu zögern, lief sie behände die beiden Treppenwindungen hinauf, die zum Dachboden führten.
    Die verschlossene Tür des Speichers bremste ihren Schwung. Ungefähr eine Minute lang stand sie keuchend vor der Tür und dachte an das Geheimnis, das sie nun dahinter hervorholen musste. Gott sei Dank hatte das Erbgut von vier Generationen geschäftstüchtiger Frauen sie mit so viel gesundem Menschenverstand versehen, dass sie für Hirngespinste unempfänglich war. Sie schob den Riegel zurück und stieß die Tür mit Entschlossenheit auf. Der schwarze, schweigende Raum, den sie damit aufgetan hatte, ließ ihren Mut erkalten.
    Über diesem Friedhof für Gegenstände, die den Lebenden von einst so unentbehrlich gewesen waren und die nun niemand mehr brauchte, schwebte ein undefinierbarer, leicht süßlicher Duft. Es war der Geruch von Balken und Dielenbrettern aus Lärchen, die sich noch nach hundertfünfzig Jahren Tod an den Wald erinnerten. Nahezu zwei Jahrhunderte nachdem es gefällt worden war, vergoss dieses Holz im Sommer immer noch ab und zu honigfarbene Harztränen.
    Im Dunkeln tastete Ambroisine nach dem Schalter. Er stammte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der Knopf war schon lange nicht mehr isoliert, und wenn man ihn drehte, bekam man immer einen kleinen unangenehmen Stromschlag. Patelle hatte ihr Vater das genannt.
    Wie in jedem guten Haushalt, in dem man rechnen konnte (denn nur wer rechnen kann, bringt es zu etwas), erhellten zwei Fünfundzwanzigwattbirnen mehr schlecht als recht den unbewohnten Raum. Dieses Licht war nicht stark genug, um die Finsternis aus einem Raum von fünfzehn Metern Länge und neun Metern Breite ganz zu vertreiben, doch es reichte aus, um einer von Angst gebeutelten Frau all die Dinge im Halbdunkel vor Augen zu führen, von denen sie bisher nur eine undeutliche Vorstellung gehabt hatte.
    Speicher sind die Laderäume der festländischen Schiffe. Man findet dort alles, was man braucht für eine Reise durch die Zeit, so wie die wirklichen Laderäume all das enthalten, was für die Reise übers Meer benötigt wird. Von diesem hier konnte man nicht gerade behaupten, dass er nur Strandgut enthielt. Bei dieser dunklen und bunt zusammengewürfelten Masse, aus der man hier und dort im knauserigen Licht irgendeinen spitzen Gegenstand herausragen sah, den Teil einer Uhr, einer Lampe oder eines großen Schrankes, handelte es sich um nichts anderes als um ein Familienmuseum, um das im Laufe der Jahre immer weiter vervollständigte Museum einer Dynastie.
    Weder Ambroisine noch sonst jemand aus der Familie hatte sich je ein Bild vom Inhalt dieser Rumpelkammer gemacht, und doch wusste sie genau, ohne es je bewusst festgehalten zu haben, wo sich die verschiedenen Dinge befanden. Ein einziger Gegenstand, der unter allen anderen herausragte, genügte, um die Menschen zu charakterisieren, die unter diesem Speicher gewohnt hatten: Es war ein Firmenschild. Nach dem Tode ihrer Mutter, als das Gebäude am Boulevard Gassendi, in dem sich das Geschäft befand, verkauft worden war, hatte Ambroisines Vater darauf bestanden, dass das Schild von der Wand abgenommen und in aller Form hierher überführt werde. Es war schwer; es war aus Eisen; es war vor allem unhandlich. Vier Arbeiter waren nötig gewesen, um es an seine letzte Ruhestätte zu hieven.
    Dort lehnte es nun im Halbschatten an der Giebelwand, auf seiner Halterung stehend, eingeklemmt in ein kunstvoll gefügtes Gebälk, in der Nähe eines komplizierten Knotens aus Zapfen und Verstrebungen.
    Es war ein großes, längliches, gewölbtes Schild, das die Form einer mystischen Mandel hatte. Auf dem strengen, in einem tiefen Braunton gehaltenen Hintergrund hoben sich die einzeln abgesetzten weißen Buchstaben hervor. Sie bildeten in der Diagonale eine meisterliche Aufschrift, die wie ein Schwarm von Schwalben schräg nach oben wegzufliegen schien. Folgende Botschaft wurde verkündet:
    Madame Scholastique Melliflore geborene Rosans Modistin
    Von der Mutter auf die Tochter seit 1845
    Modische Hüte
    Diese Demoiselles

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