Der Mörder mit der schönen Handschrift
aufgeschoben hatte.
Von all dem Alkohol, den sie im Picrocole in sich hineingeschüttet hatte, war noch eine gewisse Benommenheit zurückgeblieben, die auch der Orgasmus nicht völlig beseitigt hatte. Dies bestärkte sie in dem Irrglauben, dass sie all ihre Geistesgegenwärtigkeit bewahrt habe, dass sie immer noch Herrin der Lage sei und dass es ihr leicht fallen werde, die Drohung abzuwenden, die sie immer enger einkreiste. In dieser Stimmung streckte sie die Hand nach dem Telefon aus, um die Polizei zu alarmieren. Die Übertragung der Angst auf die Gendarmen schien ihr im Zweifelsfall immer noch das beste Mittel zu sein, um sie gänzlich auszutreiben. Entschlossen griff sie nach dem Hörer und ließ ihn sofort wieder los, als hätte sie ein heißes Eisen angefasst. Sie erinnerte sich, was sie zu ihrer Cousine gesagt hatte, damals, in der Nacht, als sie ermordet worden war. Ihr eigener Rat klang ihr noch in den Ohren: »Polizisten und Finanzbeamte sind wie ein Herz und eine Seele. Wenn man den Besuch der einen vermeiden will, sollte man auch den anderen möglichst aus dem Wege gehen. Niemand kann ganz sicher sein, dass nicht irgendwo ein blödes Papier herumliegt.«
Nein! Die Behörden mussten aus dem Spiel bleiben, auf keinen Fall durfte sie deren Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie musste mit ihren eigenen Waffen kämpfen. Niemand durfte irgendetwas mitkriegen.
So blieb sie da, unentschlossen, umgeben von Spiegeln, in denen sie sich altmodisch vorkam. Sie zuckte mit den Achseln. Es war nun höchste Zeit, an ihre »Kindereien« zu denken.
Da hörte sie zum ersten Mal durch das Rauschen der Zedern hindurch das deutliche Geräusch von Schritten. Kräftige, wenn auch ein wenig schleppende Schritte, die Schritte eines Menschen, der sich zu Hause zu fühlen schien, Schritte, die in den leeren, schon lange nicht mehr benutzten Wäschebottichen widerhallten. Ja, sie kamen ganz sicher von ganz weit da unten, aus der Waschküche mit ihrer klapprigen Tür, die man nicht wirklich absperren konnte. Ambroisine biss sich auf die Lippen bei dem Gedanken, dass sie die geradezu lächerliche Ausgabe für eine neue Tür gescheut hatte. Doch für solche Überlegungen blieb jetzt keine Zeit mehr. Der Eindringling musste nur noch den Wintergarten durchqueren (und Ambroisine glaubte ganz deutlich zu hören, dass er gerade die Eisentür aufzubrechen versuchte). Ganz leicht würde ihm das freilich nicht fallen. Seit fünfzig Jahren war dieser Wintergarten sich selbst überlassen gewesen. Er war der Kostspieligkeit der Gärtner und dem Wandel der Mode zum Opfer gefallen, und nun herrschte in ihm das Gesetz der Entstehung neuer Arten durch Evolution. Ein paar hartnäckige Pflanzen, die die dürren Sommer und die rauen Winter überstanden hatten, waren aus den Blumenkästen hinausgewachsen. Zwei Glasscheiben, die bei einem Hagelschauer zu Bruch gegangen waren, ließen bei Regen gerade genug Wasser hineintropfen, um den Pflanzen ein rudimentäres Leben zu ermöglichen. Sie hatten sich ausgesät, eine war an die Stelle der anderen getreten; als Parasiten hatten sie sich gegenseitig ausgesogen und Ranken ausgebildet, um sich besser ersticken zu können. Ein seit einem halben Jahrhundert schlecht zugedrehter Wasserhahn hatte mit seinem stetigen Tropfen gierig wuchernde Wurzeln angezogen. Dadurch war der Boden aufgeplatzt. Einige Pflanzen hatten sich tastend unter dem Zement zur Sickergrube der Kläranlage vorgearbeitet und ihr Gewölbe durchbrochen.
Im Laufe der Jahrzehnte hatten schließlich die Faserwurzeln wie Fangarme die Wasseroberfläche erreicht, und das für einige Zeit gezügelte, auf Sparflamme gehaltene Leben, das aus Gründen der Selbsterhaltung grausige Wucherungen hervorgebracht hatte, dieses Leben hatte nun wieder zu strömen begonnen, prächtiger und bedrohlicher als zuvor, da es so lange zurückgehalten worden war. Ein Holunderbusch, wer weiß von woher gekommen, hatte sich aus diesem grünen Schlamm hervorgearbeitet. Seine Zweige hatten zusammen mit all diesen aus purer Not degenerierten Formen des Lebens das Dach des Wintergartens erreicht und füllten ihn nun vollständig aus wie ein Weckglas. Unter dem Druck ihres langsamen, aber regelmäßigen Wachstums hörte man im Frühling die eine oder andere ganz gebliebene Scheibe zerspringen, und bald darauf strebte ein Zweig mit schwarzen Dolden der Sonne entgegen.
Sicher würde der Eindringling einige Zeit brauchen, um sich durch diesen Urwald hindurchzukämpfen, doch dann
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