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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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ergriffen wie eben gegenüber dem ihr sonst so vertrauten Speicher. Und dabei verdankten ihr diese Bäume das Leben. Als sie zwölf Jahre alt war, wollte ihr Vater sie fällen lassen, weil sie, wie er meinte, zu viel Licht wegnahmen. Sie aber hatte ihn damals durch Weinen, Flehen und drei Tage Fieber, das sie im Bett durch allerlei Beschwörungen herbeigerufen hatte, daran gehindert.
    Als Kind hatte sie nämlich in ihrem Schatten köstliche Augenblicke lustvoller Panik erlebt. Sie hatte darauf gewartet, dass hinter einem dieser Stämme ein Vetter mit gerötetem Gesicht hervorspringen, sie verführerisch streicheln, zu Boden werfen und schließlich nur widerwillig von ihr ablassen würde, nachdem sie lange geschrien und sich hingebungsvoll gewunden hatte. Wo waren sie nun, diese Vettern und Cousinen? Einige gab es wohl nicht mehr, andere waren alt und gleichgültig geworden. Wieso kamen sie nicht angerannt, um sie zu begleiten, sie zu beruhigen und zu beschützen? Wenn man unter der Regie des Todes noch einmal Verstecken spielt, wird man wieder zu einem kleinen Mädchen.
    Doch der nur auf den eigenen Besitz bedachte Starrsinn der Melliflores forderte sein Recht. Dieser Fels in ihr blieb auch im Ansturm der Angst unerschüttert und wies ihr den Weg. Das Gewinnstreben gewann die Oberhand über ihren Selbsterhaltungstrieb und spornte sie an.
    Um jeden Preis musste sie den reizenden Pavillon am hintersten Ende des Gartens erreichen, wo sich einst am Sonntag die ganze Familie versammelte, um den Drei-Uhr-Zug abfahren zu sehen: denn der spitze Pavillon, ein Bergfried en miniature, ragte wie eine Theaterkulisse direkt über dem Bahnhof von Digne empor.
    Unter einem rosenumkränzten Rundbogen befand sich ein Brunnen und trug zum Reiz dieses Lustortes bei, wo die Familien von einst vor Zufriedenheit strahlten, wenn sie bequem sitzend und mit allem wohlversehen auf das Spektakel dieser umher eilenden Mittelmäßigkeit blickten, das ihnen der nahe Bahnhof bot.
    Dieser Brunnen war wegen der Kinder mit einem schweren runden Deckel mit zwei Klapptüren versehen, von denen nur eine sich öffnen ließ, um einen Korb mit Flaschen hinuntergleiten zu lassen, damit die Getränke kühl gehalten werden konnten. Diese Kette hing an einem stabilen, in die Brunnenwand zwischen den Steinen eingelassenen Haken. An diesen Haken hatte Ambroisine gedacht. Diesem Brunnen hoffte sie ihren Schatz – in ihren Augen derzeit ihr teuerstes Gut, denn schließlich handelte es sich genau um das, was ein anderer haben wollte – anvertrauen zu können. Nirgendwo sonst, weder im Haus noch auf dem Speicher, glaubte sie es sicher aufgehoben. Schön und gut … Zunächst einmal galt es, diesen Brunnen zu erreichen.
    Die Angst war ihr auf den Fersen, als sie durch die Allee rannte. Es schien ihr, als werde der drohende Lärm der Zedern noch stärker, als wolle der Tunnel kein Ende nehmen, als schleiche ihr jemand im Schutz dieses Getöses hinterher und komme dabei immer näher. Stolpernd unter ihrer Last drehte sie sich mehrmals um, um sich zu vergewissern. Doch je weiter sie in die Allee eindrang, desto enger schien diese zu werden unter dem langsamen Wedeln der Zweige im Dunkeln. Das Einzige, was ihr noch vertraut vorkam und was sie ein wenig beruhigte, war das unwillige Dröhnen, das aus dem Paket kam; ein Geräusch, das an den Schlag eines kräftigen Herzens erinnerte, nur zehnmal so laut.
    Plötzlich erschien das Licht des Mondes und der Erde – die hell erleuchteten Wohnviertel unterhalb des Gartens um den Bahnhof herum – vor Ambroisines Augen.
    Sie war am Ende der Allee angekommen, ohne dass ihr etwas passiert wäre. Über dem kurzgeschorenen Gras, das man hier Rasen nannte, bot sich ihr auf einem Teppich von Zedernnadeln ein anmutiges Bild: der kleine Pavillon und der Brunnen unter dem Rosenbogen, an dem einige Blüten, die der Wind entblätterte, dem Herbst trotzten.
    Erleichtert stellte Ambroisine ihre Last auf den Brunnenrand. Sie nahm den Schlüssel von ihrem Armband. Sie neigte sich zum Brunnen, um das Vorhängeschloss herauszuziehen. Der Schlüssel drehte sich quietschend im verrosteten Schloss, doch der kleine Bügel sprang sofort auf. Sie legte das Schloss neben das Paket.
    Sie war stark. Sie hatte kräftige, harte Muskeln, sowohl in den Armen als auch in den Hinterbacken. Eine geschmeidige Kraft, an der ihre Liebhaber ihre Freude hatten. Sie schaffte es auch ohne große Mühe, den schweren Halbkreis aus verrostetem Eisen hochzuheben und ihn

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