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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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unbekanntes Objekt mit quadratischer Grundfläche gestohlen, sondern auch der Postkalender des Jahres 1912.«
    Er ließ seinen Blick langsam rundum schweifen, von der Dachluke bis zur Eingangstür, über den Raum, der in sauberer Unordnung voll gestopft war mit den Überbleibseln vieler Familien.
    »Familien«, sagte er zu sich selbst, »Familien, die – wie das Schild und die Uniform beweisen – sich nie von etwas trennen konnten. Der letzte Schrei, den diese Leute auf dem Totenbett ausstießen, galt wohl weniger dem verlorenen Leben als dem verlorenen Hab und Gut.«
    Doch der Tod Ambroisines traf ihn mehr als der Véroniques. Wie jeder in Digne kannte auch er das Temperament dieser feurigen Witwe, und es erschien ihm eine unsägliche Verschwendung, dass sie auf so elende Weise umgekommen war und der Bestimmung einer sinnlichen Frau nicht bis zum Ende hatte folgen können. »Sie liebte das Leben«, sagte er sich, »und das ist, wenn man es genauer betrachtet, eigentlich eher die Ausnahme als die Regel.« Und es erschien ihm unbegreiflich, dass sie nun nichts mehr von diesem Leben hatte.
    Es gibt – selten genug – Persönlichkeiten, die gute Schauspieler auf der Bühne des Lebens sind und deren Auftritten man mit Genuss zusieht. Wenn sie uns verlassen, macht sich Langeweile im Theater ihres Lebenskreises breit, wo sie große Erfolge feierten, und die Tage schleppen sich trostlos dahin. Ambroisine war eine von ihnen. Unter den Augen von ganz Digne hatte sie virtuos ihre Rolle der entfesselten Witwe gespielt. So schnell würde sich kein Ersatz für sie finden.
    Laviolette spürte auch unter der Last der schmerzlichen Stille, inmitten des Parfüms, das immer noch überall im Haus wie ein Hauch von ihr in der Luft hing, die Klage der Dinge, die sie verlassen hatte und die ohne sie nicht mehr wussten, welche Aufgabe ihnen noch zu erfüllen blieb.
    »Bringen Sie mich an den Ort«, bat er, »wo sie gestorben ist.«
    »Wo wir gerade dabei sind«, sagte Chabrand, »ich habe ein Detail vergessen: Es gab nicht einen Fingerabdruck, aber dafür haben wir jede Menge Spuren von diesen genagelten Schuhen entdeckt, wissen Sie? Dieselben, die wir auch bei der Cousine gefunden haben.«
    Gefolgt von Laviolette stieg er schon die Stufen der Eingangstreppe hinunter und hatte, wie Ambroisine an ihrem letzten Abend, die Seite der Treppe genommen, die sonst niemand benutzte. Die angeborene Unabhängigkeit mancher Menschen zeigt sich sogar in solchen Einzelheiten.
    Es hatte aufgehört zu regnen. Das Licht des Mondes im letzten Viertel spielte auf den erstarrten Bäumen. Die Allee zeigte sich nun weniger abweisend. Die Zedern, die an jenem Abend vor einigen Tagen im Sturm so viel zu sagen gehabt hatten, hüllten sich jetzt in unergründliches Schweigen. Mit ihren waagerechten, schimmelgrünen Zweigen wirkten sie wie Knebel auf Mündern, die nicht mit der Wahrheit heraus wollten.
    Man konnte sich kaum vorstellen, dass der unschuldige Brunnen dort, inmitten von Rosenstöcken, als Guillotine gedient hatte. Unter einem Teppich aus Blättern von den letzten Blüten, die still auf den Brunnenrand herabgesunken waren, befand sich die Tatwaffe: der Eisendeckel, der im Mondlicht rosa schimmerte.
    »Es wäre nutzlos, ihn hochzuheben«, sagte Chabrand.
    »Dadurch erfahren wir nichts Neues. Wir haben ihn untersucht. Das Wasser steht fünf Meter unter dem Rand, und es gibt einen einzementierten Haken, an dem das Opfer wohl etwas aufhängen wollte.«
    »Etwas, das man ihr weggenommen hat, nachdem sie getötet wurde«, bemerkte Laviolette.
    »Wahrscheinlich.«
    Laviolette betrachtete lange den Brunnenrand, die Rosenstöcke und das kurze Gras. Er zeigte auf den Pavillon, auf dem stolz eine Haube thronte, die an einen überdimensionierten Pfefferstreuer erinnerte. Sie war mit bunten Schieferziegeln gedeckt, deren Rautenmuster im Mondlicht schimmerte.
    »Haben Sie den Schlüssel zu diesem Pavillon?«, fragte Laviolette.
    Chabrand lachte höhnisch.
    »Ah, da ist sie wieder, Ihre alte romantische Ader! Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Sie auf diese Rokokospielerei fliegen würden wie die Wespen auf einen Honigkuchen! Seien Sie unbesorgt: Ich habe mich mit dem Schlüssel bewaffnet, auch wenn meiner Meinung nach … Wir haben dort keine Fingerabdrücke gefunden, weder an der Tür noch im Inneren. Seit Jahren hat kein Mensch mehr seinen Fuß hier hineingesetzt.«
    Mit seiner Taschenlampe erleuchtete Chabrand das Innere des Pavillons. Er bestand

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