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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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vergangenen Epoche fühlte er sich unmittelbar angesprochen, so wie man sich manchmal vom Blick eines streunenden Hundes berührt fühlt und dabei schnell weitergeht, damit keine Zeit für Gewissensbisse bleibt. So ein Blick, der zu sagen scheint: »Was wird aus mir, wenn du mich nicht nimmst?« Laviolette empfand Traurigkeit angesichts dieser ausgedienten, scheinbar seelenlosen Mauern, die man demnächst niederreißen würde, weil sie mitten auf gutem Baugrund standen.
    »Ich kann doch nicht allen alten Kram in Digne aufkaufen, nur um ihn vor der Zerstörung zu bewahren«, grummelte er.
    »Und außerdem sterbe ich ja auch mal und werde selbst vorher eine Ruine sein.«
    »Was brabbeln Sie da?«, fragte der Richter Chabrand unfreundlich.
    »Oh, nichts …«, seufzte Laviolette. »Wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie sich kaputtlachen.« Und er fügte hinzu: »Unsere Stimmungen haben nichts miteinander gemein.«
    Sie gingen unter den Zedern dahin. In der Ferne, am Fuße der doppelt gewundenen Treppe vor den Bäumen, erkannten sie im Mondlicht eine Erscheinung, die sie in jener Nacht, als sie das erste Mal vor der Lederwarenhandlung Champourcieux auf sie gestoßen waren, schon sehr beschäftigt hatte.
    Sie lehnte am weißen Kotflügel ihres Luxusgefährts. Unter ihrem schimmernden Pelz trug sie einen dunkelblauen Schulblazer mit Goldknöpfen und einen weißen Plisseerock. Weiße Socken und Tennisschuhe vervollständigten das Bild. Neben ihrem riesigen Wagen erschien sie winzig klein, und sie war flach wie ein Brett, hatte weder Hintern noch Busen. Ein schwerer Anhänger, möglicherweise aus Gold, schlug an einer Kette gegen ihre dürre Brust. Puder bedeckte wie Raureif ihr Gesicht und gab ihr ein gespenstisches Aussehen. Ihr Haar war zu zwei angriffslustigen Hörnern aufgesteckt, die unter ihrem topfförmigen Hut wie zwei Rabenflügel ihre hohlen und gewollt bleichen Wangen betonten. Als diese Kleidung, dieser Mantel und dieser Wagen modern waren, konnte sie gerade mal zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein.
    »Das ist doch nicht möglich!«, stöhnte Laviolette. »Ich werde sie anfassen, um mich davon zu überzeugen, dass sie kein Gespenst ist!«
    »Sie werden sich hüten!«, flüsterte Chabrand. »Auch wenn sie nicht viel davon hat, so ist sie doch ein Wesen aus Fleisch und Blut. Wir haben Erkundigungen eingezogen: Sie ist die untröstliche Witwe eines Milizchefs, der nach der Befreiung Frankreichs hingerichtet wurde. Er besaß hier in der Umgebung zwei kleine Sägewerke und ein Elektrizitätswerk, die man bei der Gelegenheit gleich verstaatlicht hat.«
    Sie vertrat ihnen resolut den Weg, die Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, und blies ihnen den Rauch entgegen, den sie stoßweise von sich gab. Ihre altmodische Gestalt verströmte eine seltsame Mischung aus verschiedenen Gerüchen, aus der besonders der von Gin hervorstach sowie der kalte Rauch irgendeines Nachtclubs, in dem sie den Abend totgeschlagen hatte.
    »Sie ist bleich wie ein Vampir mit nüchternem Magen!«, flüsterte Laviolette.
    »Sie hat die Augen einer erzürnten Circe!«, spöttelte Chabrand leise. »Spüren Sie nicht, wie Sie in ein Ferkel verwandelt werden?«
    »Offensichtlich«, sagte sie, als sie in Hörweite angekommen waren, »hat Hausfriedensbruch Tradition bei Ihnen.«
    »Die Feststellung der Wahrheit …«, begann Chabrand.
    »Ich scheiß auf die Feststellung der Wahrheit! Sie wollten schon wieder was klauen!«
    »Madame! Hüten Sie Ihre Zunge!«
    »Das alles gehört mir! Verstanden? Alles! Ich bin ihre einzige Verwandte, so wie ich die einzige Verwandte meiner Schwester war! Meine drogensüchtige Cousine zählt nicht!«
    »Schreien Sie doch nicht so laut! Es ist nie gut, zwei Personen zu beerben, die man gerade nacheinander umgebracht hat.«
    Sie presste leidenschaftlich die Hand auf die Brust. Ihre Nägel waren türkisblau. »Wie bitte? Sie verdächtigen mich also immer noch?«
    Laviolette, der sich in aller Ruhe eine Zigarette drehte, wandte sich an sie, ohne die Stimme zu heben. »Madame«, sagte er, »natürlich würde es niemand wagen, Sie zu verdächtigen, und ich bin auch gar nicht dazu befugt, aber bedenken Sie eines: Wenn Sie schon nicht die Täterin sind, dann haben Sie doch gute Chancen, das nächste Opfer zu sein. Glauben Sie mir, das sind keineswegs angenehmere Aussichten.«
    Er befeuchtete mit der Zunge seine fertige Zigarette und fügte hinzu: »Denn … Und damit sage ich Ihnen nun weiß Gott nichts Neues: Bei dieser

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