Der Mörder mit der schönen Handschrift
Geschichte geht es um eine Familienangelegenheit. Und es würde Ihnen vielleicht das Leben retten, wenn Sie mir eine einzige Frage beantworten würden.«
Sie bedachte ihn mit einem geringschätzigen Lächeln. »Ach ja? Und welche, wenn ich bitten darf?«
»Was für einen Wertgegenstand besitzen Sie, den man in ein quadratisches Paket von etwa sechzig Zentimeter Seitenlänge packen könnte?«
Sie schien einen Moment verblüfft, bevor sie in Lachen ausbrach.
»Ach Gott! Ein quadratisches Paket! Zu komisch! Mehr haben Sie nicht herausgefunden?«
»Doch. Was stellte Ihrer Ansicht nach eine gewisse Abbildung auf dem Postkalender von 1912 dar?«
Sie erstickte fast vor Lachen.
»Sie beleidigen mich!«, kreischte sie. »Ich bin 1922 geboren! Im Zeichen des Stiers«, fügte sie hinzu, »Aszendent Jungfrau! Und außerdem, wenn Sie glauben, Sie könnten mir Angst einjagen …«
Eine gute Minute lang überhäufte sie Laviolette mit sarkastischen Bemerkungen. Sie sprach mit der Redseligkeit dessen, der sich bemüht, mit einem unzusammenhängenden Redefluss seine Unsicherheit zu überspielen. Sie drehte ihnen den Rücken zu und ging gestikulierend auf ihr Auto zu. Von dort rief sie ihnen zu: »Mein Leben retten! Glauben Sie etwa, dass ich daran hänge? Sie alle zu verlassen ist mein sehnlichster Wunsch!«
Sie knallte die Wagentür zu und blendete sie mit den brutal aufleuchtenden Scheinwerfern. Wie ein Gespenst aus einer anderen Zeit entschwand sie mit ihrem Gefährt durch das Tor, begleitet vom leisen Geräusch des Motors.
»Apropos Gespenst«, sagte Laviolette. »Dieses Porträt in dem Lusthäuschen … Dieser Bas-Alpin mit der niedrigen Stirn …«
»Ja und?«
»Nun, hier und da lassen sich im Gesicht dieser Frau ein paar Elemente davon wiederfinden, ziemlich weit verstreut, das muss ich zugeben, aber doch Elemente des Materials, aus dem das Original dieses Medaillons geschaffen wurde.«
»Was ist daran so verwunderlich? Dieses Medaillon ist wahrscheinlich das Porträt irgendeines gemeinsamen Vorfahren, denn das Opfer war ja die Cousine dieser merkwürdigen Person.«
»Ja, ich weiß«, räumte Laviolette missgelaunt ein. »Aber ich spreche nicht von verwandtschaftlicher Ähnlichkeit.«
»Wovon denn dann?«
»Sagen wir einmal, um es knapp auszudrücken, von einer allen gemeinsamen Begabung, das Unglück auf sich zu ziehen. Und deshalb«, fügte er hinzu, »sehe ich in ihr eher ein künftiges Opfer als eine mutmaßliche Verdächtige. Ja, je mehr ich darüber nachdenke, desto wichtiger finde ich es, eine Kopie dieses Porträts zu haben. Ich muss …«
Er zögerte einen Augenblick.
»Ich muss darüber nachdenken. Lange nachdenken!«, fügte er hinzu. »Lange!«
Er zuckte die Achseln und ging gestikulierend an Chabrand vorbei auf das Tor zu.
»Familienangelegenheit!«, brummte er. »Familienangelegenheit! Gibt es auf dieser Welt etwas, das verwickelter und unbegreiflicher ist als eine Familienangelegenheit?«
Er drehte sich brüsk zu Chabrand um. »Aber um welche Familie handelt es sich? Wo sollen wir sie suchen? Wissen Sie, an welchem Ende wir sie anpacken müssen? Das riecht alles nach Staub! Eine alte, dunkle Geschichte. Ein Motiv, das wahrscheinlich keines ist. Wenigstens nicht in den Augen des Gesetzes. Also … in Ihren Augen!«
»Sie sagen das so voller Herablassung!«, bemerkte der Richter kummervoll.
»Aber nein, nein … Voller Melancholie vielleicht.«
Da erhob sich plötzlich ein kalter Wind und ließ die Zedern miteinander flüstern.
»Pst!«, befahl Laviolette. »Hören Sie zu!«
»Wem soll ich zuhören?«, fragte Chabrand überrascht.
»Dem Wind in den Bäumen! Er versucht, uns etwas mitzuteilen!«
»So was!«, sagte Chabrand leise und vorwurfsvoll. »Und das in Ihrem Alter! Solche Kindereien aus Ihrem Mund! Wenn Sie jemand hören könnte!«
»Ach, mein armer Freund … Wenn Sie solche und andere ›Kindereien‹ nicht ernst nehmen, werden Sie niemals all die üblen Streiche verstehen, die einem dieses Land spielen kann.«
Ständig vor sich hin redend ging Laviolette voran, auf die Straßen von Digne zu, die, obschon menschenleer, dennoch von Licht überflutet waren, vom Licht der Straßenlaternen und der Neonreklamen der Geschäfte mit ihren leichenblassen Schaufensterpuppen. So viel Licht breitete sich für nichts und wieder nichts aus, als wären alle Schauspieler dieses Theaters plötzlich vom Schicksal hinweggerafft worden, und die Handlung des Stücks nähme nun, nur von den
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