Der Mörder mit der schönen Handschrift
protestierte Laviolette voller Hochachtung.
Von der Uniform über das Regal war sein Blick zu der Posttasche aus Kunstleder geglitten, die ebenfalls nur darauf zu warten schien, am Riemen über die Schulter der Schneiderpuppe gehängt zu werden und die Weihnachtsrunde anzutreten, auf der es Trinkgelder nur so regnen würde.
»Kalender!«, rief Laviolette.
Sie quollen förmlich aus der Tasche, bestimmt mehr als hundert Stück.
»Darf ich sie mir ansehen?«, fragte er ängstlich.
»Aber natürlich! Keine Sorge, da war nicht ein Fingerabdruck drauf. Der Staub ist jedoch inzwischen aufgewirbelt worden, was beweist, dass jemand sie angefasst hat.«
»Warum? Und wer?«
»Bin ich vielleicht Hellseher? Man hat mir nur diesen Umstand mitgeteilt, das ist alles.«
»Diesen Umstand, das ist alles …«, grummelte Laviolette.
Voller Andacht hatte er das Paket mit den bunten Kartons aus der Tasche genommen und blätterte neugierig darin. Einige Kalender hatten noch den roten Faden an der Öse, an dem man sie an einem Nagel in der Küche aufhängte.
Diese Kalender, auf denen die Monate, die Wochentage und die astronomischen Daten ein Bildmotiv in der Mitte umgaben, waren seit langem nicht wegzudenken aus dem Leben der Franzosen. Bis in die entlegensten Winkel waren sie vorgedrungen, wo vielleicht nur das Kind, das zur Schule ging, lesen konnte und für die anderen nachsehen musste, wann Neumond war.
Lange Zeit waren sie für viele arme Leute das einzige Luxusgut, das einzige Gedruckte, das bis zu ihnen kam. Sie wurden niemals weggeworfen. Sie stapelten sich, einer über dem anderen, immer an demselben Nagel aufgehängt. Im Sommer stopfte man mit ihnen manchmal die Öffnung des Ofenrohrs zu, damit die Hornissen und die Ratten nicht durchkamen. Es gab nichts Unumstößlicheres als das Ritual des Postkalenders: Mit seiner Verteilung um Weihnachten herum wurde das Ende des Jahres eingeläutet.
Im schwachen Schein der Glühbirnen zogen unter Laviolettes Augen die fast immer äußerst naiven Bilderbögen von Epinal vorbei: die fröhliche Ankunft des Briefträgers vor einem blumengeschmückten Häuschen, wo er von einer Hausfrau in weißer Schürze mit einem Kind auf dem Arm erwartet wird; die Kathedrale von Saint-Pol-de-Léon, mit Rosengirlanden geschmückt; ein Esel auf einem Bahnübergang, der sich trotz Schlägen weigert, weiterzugehen, da nämlich schon die Dampfwolke eines Zuges am Horizont zu erkennen ist und der Bahnwärter die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Die Jahre des Schmerzes, der Krieg, der Brief aus der Ferne, das Paket für den Soldaten: Alle meine Gedanken sind bei dir, sagt eine junge Frau und atmet den Duft einer blauweißrot gefärbten Rose ein; dann der Empfang des poilu im Jahre 1918, ein Meer von Fahnen; der Einzug der französischen Truppen in Straßburg und schließlich die Rückkehr zu den ruhigen Äckern, Wäldern und Bergen, in die sich die gallische Seele der Franzosen gerne vollständig zurückzog. All das, von 1870 bis 1940 – weiter reichte die Sammlung nicht –, zog an Laviolettes Augen vorüber.
Derjenige, der diese Sammlung angelegt hatte, hatte wohl Schwierigkeiten gehabt, einige der Exemplare zu bekommen, denn viele waren schwarz verfärbt und mit Fliegendreck übersät. Einer der Kalender war sogar offensichtlich vierfach gefaltet und anschließend wieder geglättet worden, um ihn einigermaßen ansehnlich zu machen. Alle Jahre waren vorhanden und sorgfältig chronologisch geordnet. Das letzte, 1940, lag obenauf. Alle, außer einem: Es fehlte das Jahr 1912.
»1912 fehlt«, bemerkte Laviolette.
Chabrand zuckte mit den Achseln.
»Nun ja, so eine Sammlung … Wer weiß, ob sie je vollständig war?«
»Das kann man nie wissen. Aber warum fehlt dann nur ein einziges Jahr? Sehen Sie, mit welcher Sorgfalt diese Sammlung zusammengestellt ist: Diese Kalender wurden über verräucherten Kaminen und hinter den Türen von feuchten Wandschränken, wo sie verschimmelten, zusammengesucht. Sehen Sie sich diesen hier an, von 1909. Der hat in Gips und Salpeter herumgelegen. Ich könnte schwören, dass man ihn aus den Trümmern irgendeines Kellers hervorgezogen hat. Außerdem haben Sie mir doch selbst gesagt, dass jemand die Tasche des Briefträgers angefasst haben muss, weil der Staub, der sie bedeckte, aufgewirbelt war.«
»Und wenn! Dann fehlt eben 1912. Das bringt uns ja wahrhaftig einen großen Schritt weiter!«
»Es wurde also«, rekapitulierte Laviolette ruhig, »nicht nur ein
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