Der Mörder mit der schönen Handschrift
hinüber. »Wir werden vielleicht mehrere Sitzungen brauchen …«, bemerkte er vorsichtig.
Er sah schon, wie sich die tödliche Langeweile, die über seinen noch totzuschlagenden Tagen lag, in Luft aufzulösen versprach.
»Das macht nichts!«, sagte Laviolette. »Ich bin im Ruhestand, was kümmert’s mich! Wo ich Sie jetzt schon mal gefunden habe. Und dazu sind Sie auch noch aus Digne und haben als Arzt praktiziert.«
»Ja«, sagte Pardigon. »Und das mehr als fünfzig Jahre lang. Eine kleine Ewigkeit! Und vor mir war mein Vater da. Der musste noch bis nach Seyne hinauf. Zu der Zeit gab es hier nur zwei Ärzte! Und«, fügte er hinzu, »mein Sohn wäre auch Arzt geworden. Nur hat er es leider für angebracht gehalten, sich im Krieg totschießen zu lassen. Meine Frau hat sich zehn Jahre lang gegrämt, bis sie endlich an ihrem Kummer gestorben ist. Und ich, als ich fünfundachtzig war, habe ich zu meiner Haushälterin gesagt: ›Marie-Rose‹, habe ich ihr gesagt, ›ich habe immer unter den Leuten von Digne gelebt, ich will auch unter ihnen sterben.‹ ›Aber Sie sind doch hier in Digne!‹, hat sie mir geantwortet. ›Aber nein, aber nein!‹, habe ich ihr gesagt. ›Hier kenne ich niemanden mehr. Die Dignois, die echten, die, die ich schon seit Ewigkeiten kenne, die sind da oben: im Altersheim!‹ ›Im Altersheim!‹, hat sie entsetzt gerufen! ›Genau! Im Altersheim! Es geht ihnen doch gut dort, oder? Warum sollte es mir dort nicht auch gut gehen?‹ Nun ja, sie hat mich noch eine Weile bekniet, um mich von dem Gedanken abzubringen, aber im Grunde ist sie eine gescheite Frau. Sie hat verstanden, genauer gesagt, ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass das Haus und alles, was dazu gehört, nun ihr gehören würde, dass sie also …«
»Sie sind ein anständiger Mensch«, sagte Laviolette.
»Wissen Sie … Auf das, was Sie da sagen, lasse ich mich nicht festlegen. Mir schwebte niemals vor, ein anständiger Mensch zu sein. Und in mehreren Fällen habe ich auch … Aber was soll das? Sie wollen schließlich nicht meine Geschichte hören. Soll ich Ihnen nun also von den Melliflores erzählen?«
»Wenn Sie dazu bereit sind, ja«, sagte Laviolette.
»Wir werden die Sache etwas abkürzen und mit der Familiengeschichte zu Beginn dieses Jahrhunderts anfangen, mit dem Großvater der beiden Frauen. Wenn ich nämlich weiter zurückgehe, brauchen wir den Rest des Jahres dafür!«
»Wer war er, dieser Großvater?«
»Ein gewisser Gaétan Melliflore. Einer aus Barles. Seine Familie lebte schon seit den Hugenottenkriegen dort. Einige Vorfahren waren Bürgermeister gewesen und kannten das Dorf in-und auswendig. Barles ist ein wunderschöner Ort! Kennen Sie ihn?«
»Ich glaube schon«, sagte Laviolette, »ich glaube zumindest, dass ich ihn sehr gut kennen lernen werde.«
Er lehnte sich gemütlich zurück und legte seinen Arm hinter den Rücken des alten Mannes, und in dieser bequemen Haltung hörte er nun mit geschlossenen Augen aufmerksam zu.
»Dieser Gaétan Melliflore«, sagte Pardigon, »war der Draufgänger der Familie. Sein Bruder rackerte sich auf einem Stück Land ab, das so steil war, dass man den Hühnern Beutel um den Hintern binden musste, wenn man die Eier behalten wollte. Sonst wären sie bis in den Bès hinuntergerollt! Nun ja … das nur nebenbei. Das Land warf nie genügend für zwei ab. Also ist Gaétan Hilfspostbote geworden. Er war ja nicht faul. Er war bald überall gut angesehen. Man hat ihn nach Digne auf eine Planstelle versetzt. Die Uniform eines Postboten ist nicht sehr beeindruckend, aber immerhin ist es eine Uniform. Dieser Postbote war groß, hager und hatte die buschigen Augenbrauen eines Urmenschen. Er sah aus wie einer, der bei gewissen Anlässen nicht lange rumtändelt, sondern direkt zur Sache kommt. Sie verstehen schon … Zu dieser Zeit waren noch die Schnurrbärte mit hochgezwirbelten Enden in Mode, die wie Fahrradlenker aussehen. Keiner trug den seinen so gut wie Melliflore. Nun, mit diesem Kapital wollte er die demoiselles Rosans erobern, die Hüte und Regenschirme auf der Place du Mitan verkauften. Bei diesen demoiselles handelte es sich in Wirklichkeit um Mutter und Tochter. Die Mutter war die Witwe eines Schafhändlers, und ihre Tochter fing langsam an zu verblühen. Schon so um die fünfundzwanzig … Tugend ist schon wichtig, aber man darf sie nicht versauern lassen. Langsam konnte man einen schwarzen Schatten unter ihrer Nase erkennen und rote Äderchen auf ihren Wangen. Der
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