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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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verbliebenen Schatten gespielt, ihren unsichtbaren Fortgang.
    »Eine Familienangelegenheit!«, ließ Laviolette mit leiser Stimme verlauten. »Eine einfache Familienangelegenheit! Eine große Familienangelegenheit!«
    Er schritt einher, er gestikulierte, er brummte vor sich hin. Man sah seine Silhouette, die sich lautstark dieser Wüste näherte, die er sein ganzes Leben lang geliebt hatte. Er konnte nicht sehen, wie sein Gefährte unaufhörlich den Kopf schüttelte, als Zeichen des Mitgefühls.
    An dem düsteren Pathos, das an seinen Worten und wahrscheinlich auch an seinen Gedanken klebte, ließ sich erkennen, welch unglaubliche Unbekümmertheit Laviolette gegenüber all den Rationalisten an den Tag legte, die ihren Schatten auf diese Welt werfen, und Chabrand, der ihn überlebte, gelang es niemals, sich daran zu gewöhnen. Der Richter offenbarte keiner lebenden Seele, wie sich sein Gefährte in dieser Geschichte verhalten hatte, so sehr war er betrübt darüber, dass ein Mensch, für den er eine gewisse Achtung empfand, mit einem Fuß, und sei es auch nur mit einem, ganz woanders stand als auf der Erde.

8
    UNTER dem raschelnden Blätterdach großer Bäume im Oktoberkleid, am Fuße der bewaldeten Dourbes, räkelte sich die Stadt Digne mit ihrer rotblonden Mähne wohlig im herbstlichen Licht.
    Einige der besseren Restaurants warben auf ihren Speisekarten mit den ersten Wildschweingerichten. Richter Chabrand überraschte Laviolette dabei, wie er sich vor einem dieser Lokale für eine daube de sanglier interessierte.
    »Sie Glücklicher«, sagte er zu ihm, »Sie wissen nicht einmal, dass Sie einen Magen haben.«
    »Na, na!«, seufzte Laviolette. »Sie kennen dafür ganz andere Vergnügen. Jedem Alter die seinen. Aber was haben Sie da in dem großen Umschlag? Die Röntgenbilder ihrer Leber?«
    »Machen Sie keine Witze damit!«, knurrte Chabrand.
    »Eigentlich wollte ich zu Ihnen. Ich habe die Fotos dieses Porträts dabei, das Sie so sehr beschäftigt. Ich habe sechs Abzüge machen lassen, unter allen möglichen Beleuchtungen und aus allen Blickwinkeln.«
    »Geben Sie schnell her. Ich kann es kaum erwarten, mich gründlich damit zu beschäftigen.«
    »Wollten Sie gerade nach Hause?«
    »Weit gefehlt! Ich wollte eigentlich die Archive konsultieren.«
    »Die Archive? Aber die sind doch bei … Nun ja, ganz nah bei Ihnen? Sie gehen ja in eine ganz andere Richtung.«
    »Da muss ich mich wohl falsch ausgedrückt haben. Mit schriftlichen Archiven habe ich wenig im Sinn. Was ich vor allem brauche, sind lebende Archive. Kurz und gut, ich wollte ins Altersheim.«
    »Da hab ich Sie mal wieder nicht verstanden!«
    »Ich suche, wenn Sie so wollen, Bibliotheken der Erinnerung. Ich muss alte Leute aufsuchen, verstehen Sie? Alte Leute, die die Geschichte unserer Täler kennen – die Geschichte von Barles beispielsweise – und die noch bei klarem Verstand sind. Und wo kann man mehr davon finden als im Altersheim? Dort hat man sie alle abgestellt«, sagte er mit leicht ironischem Unterton und verzog dabei ein wenig den Mund.
    »Na dann mal viel Glück!«, spottete Chabrand. »Zeigen Sie mir, was Sie können. Holen Sie die Wahrheit aus Ihren Alten heraus!«
    Von gewissen Dingen wollte der Richter nichts hören. So nahm er sich die Freiheit, einige Bereiche des Lebens von sich wegzuschieben, um seine festen Überzeugungen nicht zu gefährden.
    Als Laviolette den von Pinien gesäumten Weg entlangschritt, der zum Altersheim führte, traf er auf die Krankenschwester, die ihn betreut hatte, als er wegen einer Bruchoperation in der Klinik gewesen war.
    »Schwester«, sagte er, »ich brauche jemanden, der hier aus der Gegend stammt und nicht allzu hinterwäldlerisch ist. Einen, der schon um einiges älter als achtzig und noch bei klarem Verstand ist. Einen der … nun ja … Einen, der sich noch für die Krankenschwestern und die Besucherinnen interessiert, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »O ja! Ich verstehe Sie sehr gut!«
    Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über die Alleen und die Baumgruppen schweifen, wo die Rentner umhergingen. Sie waren alle auf der Terrasse, um sich von der morgendlichen Sonne wärmen zu lassen.
    »Sieh mal an!«, sagte sie. »Sie haben Glück! Ich glaube, ich habe genau das, was Sie brauchen. Sehen Sie dort oben? Die grüne Bank unter den Lorbeersträuchern? Den hageren Mann dort, der die ganze Bank für sich allein in Anspruch nimmt?«
    »Den großen dort? Ganz in Schwarz? Mit einem Hut à la Verdi?

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