Der Mörder mit der schönen Handschrift
Pencenat sich nicht mehr bewegte. Der Unbekannte seufzte, schüttelte den Kopf und entfernte murmelnd die tödliche Schnur, die er zu einem eleganten Knäuel aufwickelte. Er hatte Mühe, die Haken, die er vorher sorgfältig rechts und links der Stufe angebracht hatte, zu entfernen. Doch es gelang ihm. Er steckte sie tief in die große Tasche seiner schweinsledernen Schürze. Danach verwischte er sorgfältig die Spuren der Löcher. Er bedeckte sie mit Laub, das er ringsherum zusammengesucht hatte. Als er fertig war, klopfte er seine Handschuhe aus.
In der Nische der Kreuzwegstation, hinter dem Gitter, das mit einem Vorhängeschloss gegen Diebe gesichert war, stand der Christus aus gebranntem Ton, mit ausgebreiteten Armen. Er schien ihm einen mitleidigen Blick zuzuwerfen.
Vom Kirchturm von Barles schlug es drei Uhr.
Man fand Pencenats Leiche. Sie war um den Stamm einer Vogelkirsche gewickelt. Beide Hälften des leblosen Körpers hingen über die Böschung hinunter, wie die Überreste eines alten Hundes, die man manchmal am Straßenrand findet.
Dank der robusten Arbeitsstiefel waren keine verdächtigen Spuren an Pencenats Knöcheln und Fesseln zu erkennen.
»Genickbruch«, stellte der Arzt kurz und knapp fest.
Am Fuße der Böschung lag das Schnapsfläschchen, zu zwei Dritteln geleert. »Stark alkoholisierter Zustand«, war im Autopsieprotokoll zu lesen.
Außerdem fand man im Graben den unbeschriebenen, versiegelten Briefumschlag mitten im vergilbten Gras. Er wurde mit einer Pinzette herausgeholt und den üblichen, minuziösen Untersuchungen unterzogen. Er wies nichts weiter als die Fingerabdrücke des Betroffenen auf. Als man ihn schließlich öffnete, nahm man das Notenblatt heraus, auf dessen unterer Hälfte einige Wörter geschrieben standen, die nichts für die Untersuchung hergaben, da sie offenbar mit einer Schablone gezeichnet worden waren: Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.
Das Papier, die Tinte, der Umschlag, die Fingerabdrücke – alles stimmte mit den beiden Briefen überein, die man bei Véronique Champourcieux und Ambroisine Larchet gefunden hatte.
Man musste also nicht länger suchen. Umso weniger, als man in dem Schuppen hinten in Pencenats Garten ein Paar abgetragene Arbeitsstiefel fand, die genau zu den Abdrücken passten, die in den Häusern der beiden Cousinen entdeckt wurden. Genau dieselbe Anzahl von Nägeln an denselben Stellen der Sohle fehlten.
Laviolette und Richter Chabrand fuhren zur Beerdigung nach Barles.
»Was ist Ihr Eindruck?«, fragte Chabrand. »Wo Sie sich hier doch so gut auskennen.«
»Warten wir es ab …«, sagte Laviolette.
»Was denn? Einen weiteren Mord?«, erwiderte der Richter gereizt.
Mit Roses letztlich entbehrlicher Hilfe trug Prudence den Schicksalsschlag mit bewundernswerter Fassung. Am Tag vor der Beerdigung konnten sich die Totengräber nicht recht zwischen dem freundlicherweise bereits ausgehobenen Grab und der Gruft entscheiden, die man erst noch öffnen musste. Doch Prudence gab ihnen die klare Anweisung, Pencenat im Familiengrab – ihrem Grab – zu bestatten. Er sollte dort unten so lange wie möglich auf sie warten. Er sollte ihr für immer ausgeliefert sein, als Strafe dafür, dass er nichts weiter als ein Mann gewesen war.
Niemand hielt Pencenat ernsthaft für einen Mörder, deshalb waren so viele Menschen bei der Bestattung anwesend, dass viele nur über die Friedhofsmauer hinweg der Zeremonie beiwohnen konnten. Hinter der grimmig blickenden Witwe und einigen weitläufigen Vettern schlurften die Alten, die Rentner und die Frauen daher. Dicht aneinander gedrängt erschienen auch die Teilnehmer der abendlichen Spielrunde: der Kapitän, der Morchelsammler und der Lehrer. Ihre verschlossenen Mienen deuteten an, dass man ihnen besser keine Fragen stellte.
Im großen Durcheinander dieser hin und her wogenden Menschenmenge glaubte Laviolette einen Moment lang, zum zweiten Mal bei einem der Anwesenden einige Gesichtszüge des Ahnenporträts aus dem Pavillon wiederzuerkennen, das ihm keine Ruhe ließ. Doch wie konnte er sich da sicher sein? Genau in dem Augenblick, als er Chabrand darauf hinweisen wollte, war der Unbekannte verschwunden, sei es hinter einem anderen, hinter einem Regenschirm (es regnete nämlich) oder einfach hinter sich selbst. Denn ein Gesicht ist nichts weiter als ein Kaleidoskop, bei dem die zahllosen Erbanlagen, die das Puzzle bilden, beim Schütteln bald übereinander liegend, bald durchsichtig, bald
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