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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Melliflores?«, fragte er.
    Man verneinte und sagte ihm, dass die beiden übrig geblieben Brüder, die dort als gemeinsame Eigentümer lebten, sich nicht einigen konnten, wer das Dach reparieren sollte. So fiel ihnen eines Nachts die Decke auf den Kopf und riss einen Teil der Wand mit sich. Der eine Bruder wurde dabei getötet, der andere verletzt. Er war nach seiner Genesung im Pflegeheim geblieben.
    »Und wem gehört der Hof jetzt?«
    »Der Bank, dem Crédit Agricole, wie beinahe alles hier!«, lautete die zutreffende Antwort.
    Dennoch ging er hinauf. Dieser Ort entsprach genau seiner Stimmung. Es war eine große, karge Ruine. Holunder wucherte auf dem Schutt, hatte die letzten Fensterscheiben durchbrochen, und die knotigen Äste mit ihren weißen Muskelfasern schossen aus den Öffnungen hervor. Ein Anblick, der jedem Passanten den dringenden Rat gab, schnell weiterzugehen. Die gesplitterten Dachbalken lagen x-förmig übereinander, Andreaskreuze, die ohnmächtig ihre Warnung an den Himmel richteten.
    In dem völlig verwilderten Obstgarten standen drei Meter hohe Weinstöcke, die sich anschickten, die wurmstichigen Pflaumenbäume mit ihren wie Fangarme ausgestreckten Reben zu ersticken. Große Hagebuttenzweige mit roten Beeren stachen wie Lanzen aus dem pflanzlichen Massengrab hervor und setzten in dieser allgemeinen Fäulnis unangemessen heitere Akzente.
    Am Fuße dreier Pappeln, die dem Grünspecht schutzlos ausgeliefert und daher am Eingehen waren, plätscherte immer noch klares Wasser aus einem Brunnen, ohne irgendjemanden zu erfrischen. War es zehn Jahre her? Oder fünfzehn? Wer konnte das wissen – hier verrottete alles schnell –, vor einiger Zeit also hatte man im Brunnenbecken ein aufgequollenes Holzfass zurückgelassen. Es war immer noch da und bewegte sich in der leichten Strömung von einem Rand zum anderen.
    Laviolette duckte sich durch die Öffnung der eingestürzten Tür hindurch, deren Sturz irgendjemand hatte mitgehen lassen. Auf dem bedrohlich hervorragenden Kranzgesims hielten einige alte Bienenkörbe Wache. Man hatte sie dort hinaufgestellt, vielleicht in der Hoffnung, dass sie sich ganz von allein wieder bevölkern würden, um sie dann enttäuscht dort oben zurückzulassen.
    Der Raum, durch dessen zersplittertes Gebälk Laviolette den Himmel sehen konnte, musste die Küche gewesen sein. Unter dem Schutt, der sich aus dem verschütteten Treppenhaus bis zur Eingangstür ergossen hatte war noch ein Stück Holzboden sichtbar. In der Außenwand des Zimmers sah man noch die für einen Waschzuber bestimmte Aushöhlung, die mit Einkerbungen versehen war, in die man die Waschbretter stecken konnte. Diese bugadière entlockte Laviolette einen tiefen Seufzer. Sie erzählte von Frauen. Es hatten also einst zwischen diesen Trümmern Frauen gelebt. Frauen, die das Pech hatten, an einem Ort, wo ein Kind schon beinahe zu viel war, zwei Kinder zur Welt zu bringen, und die für diesen Akt der Liebe, den nicht sie zu verantworten hatten, unauslöschlichen Hass und unbarmherzige Machenschaften hatten hinnehmen müssen.
    Dieser Waschzuber war das einzige Lebenszeichen. Er war der letzte Überrest des von einer Generation auf die nächste vererbten wachsamen Misstrauens und der ziemlich erfolglosen Habsucht.
    »Staub bist du, und zu Staub sollst du wieder werden.«
    Dieser tröstliche Gedanke, den die Ruine so eindrucksvoll veranschaulichte, spiegelte Laviolettes Gemütszustand wider. Er richtete die Augen zum Himmel und sah zu, wie das letzte Licht des Abendhimmels an diesem Oktobertag auf die bernsteinfarbenen Mauerreste fiel.
    Er dachte an Doktor Pardigon und an dessen Vater. Sie waren durch diese Tür gegangen. Sie hatten Hilfe geleistet oder hilflos die Arme zum Himmel ausgestreckt, wenn die Leute sie gerufen hatten und es, wie so oft, bereits zu spät war. Er dachte an diesen Gaétan Melliflore, der erst Postbote und dann Ausrufer gewesen war und der eines Tages bei Pardigon aufgetaucht war, um ihm mitzuteilen, dass er in dem Karren voll alten Plunders, den ihm sein Bruder vermacht hatte, als er im Sterben lag, einen Schatz gefunden hatte.
    Laviolettes Blick schweifte die Mauern entlang. Durch die zerstörten Fenster und die Tür betrachtete er die umliegenden völlig verwilderten Grundstücke. Sein Blick glitt über die von Disteln gesäumten Wiesen, über die Schuttkegel, deren Sand durch die Erosion ausgewaschen worden war; über die Wacholderbüsche, die sich auf den ehemaligen Getreidefeldern breit

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