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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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die Gewässer und die Steine nimmt auch jedes menschliche Wesen in diesen Tälern einen bestimmten Geruch an. Dieser Geruch rührt nicht nur von der Umgebung her, in der man lebt, sondern er wird auch durch die Beschäftigungen erworben, denen man im Laufe der Jahre nachgeht. Dieser Geruch muss nicht unbedingt unangenehm sein, wenn es sich dabei auch nicht gerade um ein Parfüm handelt.
    Der Geruch, der Pencenat beide Male, beim Hin-und Rückweg der Gestalt, in die Nase stieg, war der von Chrysanthemen; nein, eigentlich war es der Geruch von aufgebrühten Kamillen. Und in Barles kannte Pencenat nur einen einzigen Menschen, der diesen Geruch an sich hatte. Diese Einsicht ließ ihn in eine stupide Reglosigkeit verfallen, während die Gestalt die Treppe hinunterging. Was er da über die Identität der Person erfahren hatte, war fast ebenso unglaublich, wie wenn es sich dabei tatsächlich um den Geist des 1929 verstorbenen Gaétan Melliflore gehandelt hätte.
    Pencenat verfolgte ihn gespannt mit seinen Blicken. Ihn schauderte, vor Entsetzen und Verwunderung zugleich. Er sah, wie die Gestalt stehen blieb, dieses Mal aufrecht, wiederum auf Höhe der Kreuzwegstation, wie sie auf ihre Füße schaute, sich darauf schwerfällig in Bewegung setzte und schließlich mit klirrendem Stock verschwand.
    Daraufhin kroch Pencenat aus seinem Versteck. Er rollte seine Pferdedecke zusammen, legte sie sich über die Schulter und trank noch einen letzten Schluck Schnaps, den er nun dringend nötig hatte.
    Er stürzte auf den Friedhof zu und öffnete die Tür, vorsichtig darum bemüht, jedes Quietschen zu vermeiden. Dort steckte der Brief, genau vor dem Grab der Pourcins, senkrecht zwischen den abweisenden Ranunkeln, inmitten all der Bekundungen ewigen Schmerzes, die man in Form von billigen und pflegeleichten Plastikblumen so preisgünstig erwerben konnte. Der Brief flatterte im Wind. Pencenat stürzte sich auf ihn, als ob er fürchtete, er könnte davonfliegen wie ein Schmetterling. Er zerknitterte ihn sogar leicht, vor lauter Aufregung. Und sofort machte er sich daran, die Aufschrift zu entziffern. Doch obwohl der Brief versiegelt war, stand keine Anschrift darauf.
    Pencenat traute seinen Augen nicht. Er nahm sogar sein Feuerzeug zu Hilfe, um zu prüfen, ob es nur am zu schwachen Mondlicht lag, dass er nichts erkennen konnte. Doch auch im Licht seines Feuerzeugs erwies sich der Brief als vollkommen leer.
    Diese unbefleckte Drohung hätte bei Pencenat die Alarmglocke klingeln lassen müssen. Aber er war viel zu gebannt, um klar denken zu können.
    Ohne zu zögern, rannte er mit dem Brief in der Hand die Stufen hinunter, dem vorgetäuschten Melliflore hinterher. Er wollte ihn einholen, ihm die Hand auf die Schulter legen, ihn zu sich herumdrehen, ihm den unbeschriebenen Brief unter die Nase halten und sagen: »Und nun?« Denn inzwischen hatte seine grenzenlose Neugier den Gedanken an Erpressung längst verdrängt. Im Moment war ihm völlig egal, ob seine rosafarbenen Marmorsäulen schnell auf seinem Mausoleum errichtet würden oder nicht. Das Einzige, was er unbedingt sofort wissen wollte, war der Name des nächsten Opfers.
    Er sollte ihn sogleich erfahren, beim Überschreiten der Stufe vor der Kreuzwegstation. Denn im selben Moment, als er kopfüber ins Leere stürzte, begriff er, dass es sich bei dem, worüber er gerade gestolpert war, um ein gewöhnliches Stück Schnur handelte, das jemand über die Stufe gespannt hatte.
    Er schrie. Aber wer hört schon einen Schrei in einer Nacht, in der der Wind durch Barles heult und das Rauschen des Bès das Tal ausfüllt?
    Der Höhenunterschied zwischen der Stufe und der Baumreihe, die einen Schuttablageplatz abschirmte, betrug gerade einmal zehn Meter. Aber das reichte, um Pencenat wie einen Turmspringer in die Tiefe schnellen zu lassen. Er schlug mit dem Kopf auf und brach sich das Genick. Seit langem wollte man dort ein Geländer anbringen. Doch weil es nie einen Unfall gegeben hatte, war man im Laufe der Zeit wieder von dieser Idee abgekommen.
    Das Geräusch des Sturzes riss ein Loch in das Heulen des Windes. In der plötzlich eingetretenen Stille war das heftige Fauchen einer aufgescheuchten Katze zu hören.
    Nun kam die als Pionier verkleidete Gestalt wieder aus dem Gestrüpp hervor, hinter dem sie sich versteckt hatte, und zeigte sich im hellen Mondschein. Grummelnd und stöhnend ging sie bis zur Kreuzwegstation hinauf. Dort beugte sie sich kurz über den Steilhang, um sicherzugehen, dass

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