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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Gartentor. Vor dem Verschlag unter dem Vordach, wo er seine alten Sachen aufbewahrte, blieb er einige Sekunden stehen. Er hielt sich das Kinn mit der Hand und betrachtete den leeren Platz im Regal, von dem ihm irgendjemand seine schweren Arbeitsstiefel gestohlen hatte. Schließlich ging er kopfschüttelnd davon.
    Der Sturm verlieh der Mondnacht jenen unwirklichen Charakter, der für dieses Tal so charakteristisch war. Die beängstigende Helligkeit brachte alle geheimnisvollen Dinge dieser Welt zum Vorschein. Pencenat war nicht das Geringste davon. Eine Pferdedecke lag auf seinen Schultern, die einzige Ausrüstung, die er mitnahm, wenn er sich auf die Lauer legte. So ausgestattet, machte er sich auf den Weg zum Totenacker. Im Schutz der Häuser, an denen er sich entlangdrückte, war er zunächst nur als schemenhafter Umriss zu erkennen. Den Weg zum Friedhof hinauf musste er sich jedoch schutzlos der indiskreten Helligkeit des Mondes aussetzen.
    Der Weg hinauf führte über breite, schiefe Stufen, die dort, wo sie scharfe Kehren machten, unmittelbar an den Abgrund heranführten, ohne Geländer, das vor einem Sturz ins Leere bewahrt hätte.
    Ein scharfes Pfeifen fegte durch das Tal. Die Pappeln am Ufer des Bès hatten schon lange keine Blätter mehr. Nun waren die Birken und Espen an der Reihe, ihre Blätter fallen zu lassen; es klang wie ein leichter Regenschauer, der leise im Nachtwind flüstert.
    Pencenat stieg die vertrauten Stufen hinauf. Er geriet ein wenig außer Atem und dachte an all die Toten, die er bis hier hinaufgetragen hatte, mit der schweren Last des Sarges auf seiner Schulter. Auf den steilen Stufen gerieten die Särge bedenklich ins Schwanken, glitten über die abrupten, bedrohlichen Windungen der Stufen hinweg wie unlenkbare Schiffe, die einen unsicheren Kurs auf dem unberechenbaren Weg einschlugen, begleitet vom geduldigen Keuchen der Träger, die sie zu ihrer letzten Ruhestätte hinauftrugen.
    Eines Tages würde auch er, Emile Pencenat, auf den Schultern der Lebenden auf diese Weise hinaufgetragen werden. Sofern er bis dahin sein Grab fertig gestellt hatte!
    Dieser Gedanke spornte ihn an, trieb ihn vorwärts. Wenn es ihm gelänge, diesen Unbekannten zu erpressen, der ihn offenbar für einen noch im Dienst befindlichen Postboten hielt, würde er es bald fertig stellen können.
    Er rannte beinahe und erreichte schnell die Kuhle zwischen Geißblattsträuchern und Clematisranken, wo er sich einen bequemen Schlupfwinkel eingerichtet hatte. Stundenlang konnte er dort lautlos auf der Lauer liegen. Er rollte seine Pferdedecke aus, verkroch sich in seine gefütterte Lammfelljacke und stülpte seine Jägerhandschuhe über. Er war sich darüber im Klaren, dass er, sobald das gnadenlose Licht dieser Nacht seinen vollen Glanz entfalten würde, trotz dieser Aufmachung bald ebenso schutzlos daliegen würde wie ein Wurm, der an einem Regentag aus der Erde kriecht.
    Natürlich hütete er sich, zu rauchen, auszuspucken oder sonst den geringsten Anhaltspunkt für seine Anwesenheit zu geben. So verrückt der Unbekannte sein mochte, auf den er wartete; er war offenbar alles andere als dumm.
    Der Mond stieg höher. Aus dem Inneren der Kapelle mit dem schadhaften Dach, in der früher die Toten vor dem Begräbnis abgestellt wurden, drang ein klapperndes Geräusch. Hin und wieder schwebten große Platanenblätter wie lautlos fliegende Fledermäuse in weiten Kurven ins Dunkle. Hinter dem Friedhofstor knisterten die Perlenkränze und die Plastikblumensträuße.
    Vor Pencenat schlängelten sich die ausgetretenen Treppenstufen hinauf, bis zur letzten Windung, wo eine Kreuzwegstation mit vergitterter Nische stand. Diesen Ort ließ er nicht aus den Augen: Genau hier würde derjenige auftauchen, den er erwartete.
    Und er erschien. Pencenat erkannte in ihm allerdings zunächst keine menschliche Gestalt. Er hielt ihn für einen Hund, der schnüffelnd und knurrend auf dem Boden nach Spuren zu suchen schien. Dann war es ein Tier auf vier Pfoten, das aussah wie ein bleicher, zotteliger Dachs.
    Lange Zeit blieb es bei dieser Ungewissheit. Die Gestalt bewegte sich kaum, ging tief geduckt umher und drehte sich immer wieder um sich selbst. Pencenat begriff erst, dass er es mit einem Menschen zu tun hatte, als er plötzlich das Geräusch eines Hammers oder eines Steins bei der Kreuzwegstation hörte. Irgendetwas wurde zerschlagen oder irgendwo hineingeklopft. Dieses Geräusch war mehrere Male für einige Zeit zu hören, dann war es wieder

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