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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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still. Nun richtete sich die Gestalt wieder auf und begann, schwerfällig die Stufen zum Friedhofstor hinaufzusteigen.
    Pencenat duckte sich in seine Kuhle wie ein Wildschwein und schluckte. Nun würde er es also erfahren. Eine größere Befriedigung konnte er sich nicht ausmalen. Er vergaß darüber sogar die Säulen seines Grabes. Er genehmigte sich einen großen Schluck Schnaps aus seinem Flachmann, den er für alle Fälle mitgebracht hatte. Von diesem Moment an hörte sein Adamsapfel nicht mehr auf, sich auf und ab zu bewegen. Indessen bewegte sich die Gestalt Schritt für Schritt auf ihn zu, nahm deutlicher Konturen an und stand schließlich im hellen Licht des Mondes vor ihm.
    Es war ein alter Mann mit einem Stock, der schnaufend und fluchend die steilen Stufen heraufkam. Ab und zu hielt er inne und schaute zum Friedhofszaun, als ob er befürchtete, ihn nie mehr zu erreichen.
    Pencenat begriff nicht sofort, dass das, was ihm da den Nacken hinunter und über den Hemdkragen rann, kalter Schweiß war. Denn der Alte, der da grummelnd und hustend auf ihn zukam, war Gaétan Melliflore, verstorben im Jahre 1929. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, lag dieser Mann genau dreißig Meter entfernt von dieser Stelle im großen Familiengrab der Melliflores, und das schon seit mehr als dreißig Jahren!
    Pencenat stammte aus Digne. In seiner Kindheit war er vom Anblick dieses Greises derart in Angst und Schrecken versetzt worden, dass er ihn sofort wieder erkannte.
    »Gestorben 1929! Hölle und Schwefel!«
    Pencenat versuchte, im Gras zwischen den Gänseblümchen und den plattgedrückten Kornblumen zu verschwinden. Er war noch platter als die Blumen.
    Ein Toter, der es wagen würde zurückzukehren, wäre – paradoxerweise – bei den Sterblichen nicht gerade willkommen, ungeachtet der großen Hoffnung, die eine solche Erscheinung doch eigentlich bei schlichten Gemütern wecken müsste. Pencenat war in dieser Nacht der beste Beleg dafür. Er bekam Schluckauf; und das nicht etwa, weil ihm kalt gewesen wäre.
    »Gestorben 1929! Hölle und Schwefel!«
    Angesichts dieser erschreckenden Feststellung konnte er sich nur mit Mühe davon zurückhalten, laut in die Nacht hinaus zu schreien. Die Ähnlichkeit dieser lebenden Gestalt mit der des Melliflore von einst war einfach zu verblüffend.
    Gaétan Melliflore war zu Lebzeiten öffentlicher Ausrufer gewesen, und das fünfundzwanzig Jahre lang, bis zu seinem Tod. Dass er auch jetzt noch dieses Phantasiekostüm trug, war der Beweis dafür. Die Kinder nannten ihn damals »Waschmittelmann«, da es eine Waschmittelmarke gab, deren Wahrzeichen ein Pionier war. Und der hatte ganz offensichtlich bei der Zusammenstellung der Uniform Pate gestanden; einschließlich der Bärenfellmütze.
    Diese Uniform leuchtete im Mondlicht noch heller als das Leichentuch eines Geistes. Pencenat war fasziniert vom Weiß der Lederhandschuhe, die aussahen wie neu. Er behielt den rechten davon fest im Auge, denn zwischen den unförmigen Fingern war etwas Flaches, Längliches zu erkennen: ohne Zweifel ein Briefumschlag.
    Was das Gesicht anging, das nun aus weniger als fünf Metern Entfernung zu sehen war, so erinnerte es an die aufgeblasenen Backen eines gereizten Tigers. Der sich sträubende Schnurrbart und die zornigen Augenbrauen vervollständigten das Bild. Wie Wachs überzog eine Puderschicht die auffällig geröteten Wangen. Es musste sich wohl um eine Karnevalsmaske handeln, um eine von der grausigen Sorte. Den Gedanken, der ihm angesichts dieser Gestalt durch den Kopf schoss, konnte er sich selbst nicht erklären, dazu war keine Zeit. Aber er beschäftigte ihn die ganze Zeit, die er noch zu leben hatte: »Er sieht aus wie einer, der Recht hat«, sagte er sich.
    Die Erscheinung ging so nah an ihm vorüber, dass er sie atmen hörte. Sie ging unter der kahlen Eberesche hindurch, die sich bei jedem Windstoß vor der Friedhofsmauer verneigte. Ihre schweren Schritte wirbelten die Flügel der Ahornsamen durcheinander, die im kurzen Gras des Weges verstreut dalagen.
    »Gestorben 1929! Hölle und Schwefel!«
    Der scheinbare Gaétan Melliflore blieb vor dem Friedhofstor stehen. Seine Hand mit dem weißen Lederhandschuh hob sich bis zum Schlitz des Briefkastens und ließ den Briefumschlag hineinfallen.
    Dann machte er kehrt und kam von neuem ganz nah an Pencenats Versteck vorbei. Und der nahm wiederum den ungewöhnlichen Geruch dieser Person wahr, den der Wind zu ihm herübertrug.
    Wie die Wildschweine, die Vögel,

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