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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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machten; über die schroffen Brüche, die zu den tief eingeschnittenen Rinnsalen und zum Bès hinführten und der Brache große Flächen an Ackerland weggerissen hatten, und über die Eichenwäldchen, die kümmerlich wirkten, da ihnen viel zu viel Holz entnommen worden war.
    Was für einen Schatz konnte diese gnadenlose Kargheit wohl je hervorgebracht, enthalten, aufbewahrt oder ermöglicht haben?
    Laviolettes Blick richtete sich auf die schwarze Zwischenwand, wo der Rauchfang zur Hälfte abgetragen worden war. Im Schutz einer Nische, die von den Resten der Abzugshaube und einem Stück der eingestürzten Decke gebildet wurde, hing noch ein rechteckiger Karton an einem Nagel, der wie in so vielen anderen Häusern auf dem Lande wohl dazu diente, die Öffnung für das Ofenrohr während des Sommers zu verschließen.
    Ohne zu begreifen warum, fühlte sich Laviolette sofort von diesem Überbleibsel angezogen, das von der Abendsonne beleuchtet wurde. Als er sich so stellte, dass der Lichtstrahl sich in seiner Blickrichtung befand, gelang es ihm, den Gegenstand zu identifizieren: Es war ein Postkalender. In einer Ecke des schmutzigen schwarzen Kartons konnte er sogar noch die Jahreszahl entziffern: 1912.
    Er dachte einige Sekunden über das Datum nach. Er erinnerte sich an den Besuch, den er zusammen mit Chabrand der Villa des Cèdres abgestattet hatte, an seine Entdeckung der Kalendersammlung auf dem Speicher. Natürlich durfte man nicht ohne weiteres annehmen, dass es sich hierbei um das Exemplar handelte, das in der Sammlung fehlte. Schließlich waren vermutlich selbst zu jener weit zurückliegenden Zeit in jedem Jahr Kalender mit unterschiedlichen Motiven ausgeliefert worden. Einer jener Zufälle, an deren Späße sich Laviolette längst gewöhnt hatte, war dennoch nicht auszuschließen.
    Schwitzend und schnaufend stapelte er alle erdenklichen Trümmer vor dem zerstörten Rauchfang auf, um an den Kalender zu gelangen. Der erste Versuch scheiterte. Das wackelige Vorgebirge brach unter ihm zusammen, und er fand sich zwischen den weit verstreuten Trümmern sitzend wieder. Mit Hilfe eines Balkens, den er mit einigen übereinander gelegten Dachplatten aus Schiefer abstützte, gelang es ihm endlich, den Karton zu erreichen und ihn von der Wand zu reißen. Schnell nahm er ihn mit nach draußen.
    Unter den Pappeln am Brunnen war es noch so hell, dass man auf dem Karton ein gedrucktes Bild ausmachen konnte.
    Doch nach all den Jahren im Rauch war der Kalender stark verrußt, sodass man das Motiv nicht mehr erkennen konnte. Vergebens hielt ihn Laviolette nach oben, in die Strahlen der untergehenden Sonne. Alles, was er unter der dunklen Schmutzschicht und dem Fliegendreck erkennen konnte, waren die vagen Umrisse eines Dreiecks auf einfarbigem Hintergrund, dessen Inhalt und Umrandung jedoch nicht mehr sichtbar waren.
    Laviolette rannte über Kegel und Mulden den Berg hinunter wie ein hoffnungsvoller junger Mann, den Kalender unter den Arm geklemmt. Er grübelte über alle möglichen Methoden, den Kalender zu säubern, ohne das Bild zu zerstören. Als er in Digne angekommen war, dachte er die ganze Nacht darüber nach. Er vergaß darüber vollkommen die füllige Félicie und ihren schnauzbärtigen Postbusfahrer.
    Das Hinscheiden von Emile Pencenat verursachte in Barles keine besondere Aufregung. Noch am Abend seiner Beerdigung, nachdem ein paar »Und du glaubst wirklich nicht, dass es unpassend ist?« ausgetauscht worden waren, lagen sich Prudence und Rose in den Armen. Beide standen dazu noch unter dem Einfluss jenes aufreizenden Erdgeruchs, mit dem Gevatter Tod bei seinen Auftritten die Seelen der Sterblichen tränkt. Mit Hilfe des Toten, der dabei als Person unwichtig war, hatte der Sensenmann den Ohren dieser schlichten Gemüter die nahen Verheißungen seines düsteren Reichs eingeflüstert. So liebten sich die beiden in jener Nacht mit der Hingebung von Schiffbrüchigen. Wenn der Tod ein Liebespaar streift, nimmt die Liebe eben diese Formen an.
    Nicht einmal die Kartenpartie bei Monsieur Régulus, die jeden Mittwoch und Samstag stattfand, wurde beeinträchtigt, denn auch der charcutier d’amour liebte alte Schulgebäude mit staubigen Wandelgängen und Schulhöfen, in denen Kastanienbäume standen und wo man nachts zuhören konnte, wie die Lombarde, der heftige Ostwind, die rötlichen Blätter zusammenfegte. Schon lange hatte er – unter anderen Dingen – auf einen Platz unter den privilegierten Kartenspielern spekuliert, die

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