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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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Cadaqués liegt auf einer entlegenen Halbinsel nördlich von Barcelona an der Costa Brava. Das bei Schriftstellern und Künstlern sehr beliebte Dorf gilt als exklusiver, nicht überlaufener und noch unberührter Ferienort.
    Zu dem Artikel gehörten Fotos von den weiß getünchten mediterranen Häusern im alten Hafen, eines davon mit einem kleinen Bild des Surrealisten Salvador Dalí mit seinem bizarren Zwirbelbart in der Ecke. Dazu ein Schnappschuss des Jungen, der in die Kamera grinste. Richard starrte lange auf das pausbäckige Gesicht mit dem blonden Lockenschopf. Er hatte genügend Fotos von sich in diesem Alter gesehen, um keinerlei Zweifel zu hegen, dass er selbst das entführte Kind war.
    Er konnte nicht sagen, ob die undeutlichen, bruchstückhaften Bilder, die ihm jetzt durch den Kopf spukten, echte Erinnerungen waren oder nur die Reaktion auf die schockierende Lektüre über seine eigene Entführung. Jedenfalls glaubte er sich plötzlich an einen abgedunkelten Raum zu erinnern. Eine Frau, die sich über sein Kinderbett beugt und ihn vorsichtig auf den Arm nimmt, wobei er mit dem Nagel ihre Wange streift, klebriges Blut an seinen Fingern. Sein Pandabär, der zu Boden fällt. Dann lichtet sich die Dunkelheit, und er wird aus einem Auto getragen. Irgendwo in der Tiefe rauscht das Meer und verströmt einen kühlen salzigen Duft.
    Seine Mutter war also nicht seine echte Mutter. All die erdrückende Liebe, ihre weiche, warme Brust und das Eau de Cologne mit dem Rosenduft, das ihn bedrängt und ihm die ganze Kindheit hindurch die Luft zum Atmen genommen hatte, musste letztlich einen Keil zwischen sie treiben. Erst jetzt wurde ihm klar, wie verzweifelt sie sich offenar darum bemüht hatte, ihn doch noch für sich zu gewinnen. Als hätte er irgendwie die ganze Zeit die Wahrheit gewusst.
    Aber war es überhaupt möglich, dass er sich tatsächlich an etwas erinnert hatte? War eine normale Beziehung zwischen ihnen wirklich von diesen Erinnerungen verhindert worden? Wie sehr musste sie von ihm enttäuscht gewesen sein!
    Er ließ die folgenden Tage durchlaufen. Die Geschichte hielt sich lange auf den Titelseiten, mit Hintergrundinformationen und Features auf den Innenseiten. Experten spekulierten über die Gründe der Entführung. Alles vom modernen Menschenhandel im Pädophilen-Milieu bis hin zum illegalen Adoptionsmarkt wurde diskutiert. Entführung aus finanziellen Gründen hatte man ausgeschlossen, nachdem es keine Lösegeldforderungen gab. Außerdem war Rod Bright zwar ein erfolgreicher Geschäftsmann in Ilford, aber gewiss kein wohlhabender Mann.
    Einer der Artikel befasste sich auch ausführlich mit der Familie Bright selbst – Rod und Angela und ihren drei Kindern –, doch Richard brachte es nicht über sich, ihn zu lesen. Vorerst jedenfalls nicht. So spulten sich Tage und Wochen vor seinen Augen ab, dann musste die Geschichte von den Titelseiten weichen, und die Artikel über ein eklatantes polizeiliches Versagen wurden immer kürzer, rutschten immer weiter nach hinten, bis sie schließlich ganz verschwanden. Jetzt galten die Schlagzeilen den Unruhen in der Provinz Nordirland, wo Sozialdemokraten und Labouranhänger eigene Parteien gegründet hatten, um für die Rechte der Katholiken einzutreten.
    Und dann, etwa sechs Wochen später, war eine junge Journalistin aus der Feuilletonredaktion der Zeitung nach Spanien geflogen, um Angela Bright zu interviewen. Sie war immer noch in Cadaqués und weigerte sich zu gehen, bevor sie nicht ihren Sohn wiederhatte oder sein Tod bewiesen war. Das Blut stammte, wie sich gezeigt hatte, nicht von ihm. Wegzugehen, erklärte die Mutter der Journalistin, sei in ihren Augen Verrat an ihrem Sohn – als würde sie ihn aufgeben und sich damit abfinden, dass er für immer verschwunden sei. Sie bringe das einfach nicht fertig.
    Und so war dieser malerische Ferienort, in dem ein gehobenes Publikum Urlaub machte, für sie zum Gefängnis geworden, zu einem goldenen Käfig, den sie bis zu Richards Rückkehr oder bis zu ihrem eigenen Tod nicht mehr verlassen würde. Sie hatte bereits ein Haus gemietet und mit den örtlichen Behörden darüber gesprochen, ihre Kinder auf eine staatliche Schule zu schicken.
    Inzwischen war ihr Mann nach England zurückgekehrt, um seine geschäftlichen Interessen wahrzunehmen.
    Richard betrachtete das Foto von ihr, auf dem sie in einem Korbsessel saß und einsam und verlassen in die Kamera blickte. Lange starrte Richard zurück. Offenbar hatte er Haar- und

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