Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Augenfarbe von seiner Mutter geerbt. Ein blonder Schopf, und selbst auf dem Schwarzweißbild war deutlich zu erkennen, dass sie sehr helle Augen hatte, zweifellos blaue wie er. Doch sie sah deutlich älter aus als dreiunddreißig Jahre. Müde und gequält.
Irgendwann konnte er den Blickkontakt mit diesem Geist aus seiner Vergangenheit nicht mehr ertragen und sah weg; er blinzelte ein paarmal gegen die Tränen, die ihm kamen.
Dann stand er auf und ging das Register suchen. Jetzt, wo er wusste, welche Geschichte er verfolgte, würde er auch alle späteren Verweise darauf finden und direkt zu den entsprechenden Artikeln gelangen. Wie sich zeigte, waren es nur noch wenige. Wie schnell die Welt doch das Leid vergaß, an dem sie ein paar kurze Tage oder Wochen lang zum Frühstück Anteil nahm.
Der letzte Registereintrag, den er fand, stammte aus dem Jahr 1976, anlässlich seines achten Geburtstags. Irgendeinem Nachrichtenredakteur war es in den Sinn gekommen, dass der Jahrestag eine Geschichte hergäbe. Vielleicht bot der Monat sonst nicht viel Berichtenswertes. Und so hatten sie einen Reporter für ein Follow-up-Interview zu Angela Bright geschickt, die immer noch in Cadaqués lebte. Eine nette, kleine Ferienreise für einen Feuilletonredakteur, Spesen inklusive.
Señora Bright, wie sie nun in ihrem Wohnort hieß, hatte direkt unterhalb der Kirche, die über dem Städtchen thronte und die Bucht überblickte, ein großes Haus gekauft. Das ältere ihrer verbliebenen Kinder, ihre Tochter Lucy, war gerade ans Gymnasium gewechselt. Richards Bruder William ging noch in die Grundschule. Angela und Rod hatten sich anderthalb Jahre zuvor getrennt. Als gute Katholikin weigerte sich Angela natürlich, in die Scheidung einzuwilligen, doch ihre Ehe war vorbei. Er hatte nach vorne blicken wollen, wozu sie nicht in der Lage war. So lebte sie immer noch in ihrem goldenen Käfig, den sie nicht verlassen würde. Auch wenn sie davon ausgehen musste, dass ihr Sohn tot war, trug sie in sich diesen letzten Funken Hoffnung, er könne doch noch irgendwie und irgendwo am Leben sein.
Sie betete jeden Morgen in der Kirche für ihn, nur wenige Schritte entfernt von ihrem Haus, und brachte ansonsten ihre Tage zurückgezogen hinter geschlossenen Fensterläden oder im kühlen Schatten ihres winzigen, von einer Mauer eingefriedeten Gartens zu. Auf dem Foto schien sie um zwanzig Jahre gealtert.
Es gab auch Bilder von seinem Bruder und seiner Schwester sowie kurze Interviews mit beiden. Erst jetzt begriff Richard, was er beim Überfliegen der früheren Beiträge nicht gesehen hatte, was ihm aber mit Sicherheit nicht entgangen wäre, hätte er sich nicht gescheut, den Hintergrundartikel über seine Familie zu lesen.
Mit einem überwältigenden Gefühl eines Déjà-vus starrte er auf den Bildschirm, und es kam ihm zum zweiten Mal so vor, als würde er im freien Fall in einen dunklen Abgrund stürzen, der sich unter ihm auftat.
Kapitel einundzwanzig
Cahors, November 2008
Als sie den Platz überquerten, blickte Enzo über die roten Ziegelmauern der Altstadt zu den bewaldeten Hügeln hinauf, die sich am anderen Ufer des Flusses erhoben und eine dunkle Linie vor dem tiefblauen Winterhimmel bildeten. Eine bleiche Sonne warf lange Schatten über den Platz. «Den schnapp ich mir, den Mistkerl.»
Als hätte Enzo nichts gesagt, bemerkte Simon: «Ich nehme den Flieger um vier, ab Toulouse.»
Sie waren zusammen schweigend quer durch Cahors gelaufen – am imposanten Palais de Justice vorbei, in dem Enzo möglicherweise immer noch der Prozess gemacht werden würde, über den belebten Boulevard Gambetta in die Rue Maréchal Foch, die auf den Place Jean Jacques Chapou mündete.
Die Kathedrale hüllte sich in eisiges Schweigen, als werfe sie einen Schatten christlicher Missbilligung auf die Rachegelüste, in denen Enzo schwelgte. Auf ihrem Weg durch die Stadt war er darin so vertieft gewesen, dass ihm Simons ungewöhnlich düstere Stimmung entging.
Simon war schon immer launenhaft gewesen. Eben noch der extrovertierte Draufgänger, den nur sein Charme vor den Konsequenzen einer zuweilen destruktiven Impulsivität bewahrte, dann der Melancholiker, der von einem Moment zum anderen solche Trübsal blies, dass es fast unmöglich schien, ihn aufzuheitern.
An diesem kalten Novembermorgen jedoch war seine Stimmung weder manisch noch depressiv. Simon wirkte verhalten, und als er endlich den Mund aufmachte, bildeten sich in der Kälte Atemwolken.
«Ich stecke in
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