Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
kein Zufall sein. Und für einen Trittbrettfahrer, der uns auf eine falsche Spur locken will, ist das eine viel zu spezifische Methode, die ‹gelernt› sein will. Gehen wir also davon aus, dass wir es in der Tat mit demjenigen zu tun haben, der Lambert getötet hat.» Er deutete mit der offenen Hand auf Raffin. «Vielleicht machst du erst mal alle hier mit den Fakten zu diesem Fall vertraut?»
Raffin blickte in die Gesichter, die alle neugierig in seine Richtung starrten, und für Enzo war unverkennbar, wie sehr der Mann es genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Der Journalist nahm einen Schluck Cognac.
«Pierre Lambert war ein homosexueller Callboy in Paris. Er schaffte nicht auf der Straße an, sondern arrangierte seine Verabredungen telefonisch, von seiner Wohnung aus. Seine Freunde sagten damals aus, er habe seine Buchungen in einem Terminkalender festgehalten und außerdem ein Adressbuch mit zahlreichen Telefonnummern geführt. Keins von beiden wurde je gefunden.»
Er schwieg einen Moment, während er in einem Dokument auf seinem Computer weiter herunterscrollte.
«Es ging das Gerücht, Lambert habe eine Affäre mit einem hohen Tier in der Regierung. Doch dieses Gerücht war nur unter seinen Freunden in Umlauf, und zwar nur aufgrund seiner Prahlereien – bei denen nie ein Name fiel oder anderweitige Einzelheiten preisgegeben wurden. Er war dafür bekannt, sein Leben mit phantasievollen Übertreibungen auszuschmücken. Daher kann im Grunde niemand sagen, wie viel Wahrheit in diesen Behauptungen steckte. Wenn überhaupt etwas dran war. Jedenfalls verwendete die Polizei viel Zeit darauf, in diese Richtung zu ermitteln – ohne Erfolg.»
Am Tisch herrschte gespanntes Schweigen, und die anfängliche Neugier schlug in Faszination um.
«Er warb in den Kleinanzeigen verschiedener Zeitungen und Magazine für seine Dienste, und obwohl er mit Sicherheit nie arbeitslos war, hätte sein Einkommen in diesem Erwerbszweig niemals die großen Summen erklären können, die in regelmäßigen Abständen auf eines seiner Bankkonten eingingen.»
Nicole beugte sich vor, sodass der Lichtkegel der Lampe ihr Gesicht erfasste. «Was für Summen?»
Raffin sah in seinen Notizen nach. «Unterschiedlich. Zwischen hundert- und fünfhunderttausend Francs.» Es war erstaunlich, wie der Wert des Franc in nur acht Jahren bereits in Vergessenheit geraten war und jeder am Tisch anfing, den Betrag in Euro umzurechnen. Doch Raffin kam ihnen zuvor.
«Das sind etwa fünfzehn- bis fünfundsiebzigtausend Euro. Diese Zahlungen flossen im Durchschnitt alle zwei Monate und beliefen sich nach Ablauf von anderthalb Jahren auf fast eine halbe Million.»
«Erpressung?», fragte Kirsty.
Raffin zuckte die Achseln. «Schon möglich, allerdings gibt es dafür keinerlei Anhaltspunkt. Das Geld wurde immer bar eingezahlt, auf ein Schwarzgeldkonto auf der Insel Jersey, eine der Kanalinseln. Natürlich tauchte es in keiner Steuererklärung auf.»
Er öffnete sein Buch an einer Stelle, die er vorher mit einem Zettel markiert hatte, und knickte den Buchrücken, damit es nicht zuschlug. «Sehr viel mehr wissen wir nicht über ihn. Ich habe ein wenig über seine familiäre Herkunft recherchiert, an der absolut nichts Bemerkenswertes ist. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie in einer Pariser banlieue . In jungen Jahren verlor er seinen Vater und wuchs mit seiner Mutter, seiner Schwester und einer Tante auf. Somit waren alle seine Leitbilder Frauen. Er spielte mit Puppen und mochte die Mädchenspiele mit seiner älteren Schwester. Rollenspiele, Doktor und Patient, solche Sachen. An der Schule zeigte er nur mäßige Leistungen, und so ging er schon früh ohne Abschluss ab und begann eine Kellnerlehre. Ein paar Jahre lang arbeitete er in einem Restaurant im Quartier Latin, wo er auch seinen ersten Zuhälter kennenlernte und begriff, dass er im Sexgewerbe mehr Geld verdienen konnte. Er kannte eine Menge Leute, hatte jedoch nicht viele Freunde. Nach allem, was man weiß, war er kein besonders sympathischer junger Mann. Er war dreiundzwanzig, als er ermordet wurde.»
Raffin blätterte ein paar Seiten weiter zum nächsten Lesezeichen. «Und jetzt wird es interessant.»
Er sah auf, und um seinen Mund spielte ein leises Lächeln. Sein Publikum hing ihm förmlich an den Lippen. «Er hatte gerade eine ziemlich teure möblierte Wohnung südlich von Chinatown im dreizehnten Arrondissement gemietet. Das Gebäude stand in der Rue Max Jacob. Es war erst kurz zuvor restauriert
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