Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
sich dahinter, während sie warteten. Dabei las er nicht, und als Kirstys Flug endlich aufgerufen wurde, faltete er die Seiten zusammen und ließ sie auf dem Sitz neben sich liegen.
Sie gingen zusammen zum Gate und blieben kurz davor stehen, ohne zu wissen, wie sie sich verabschieden, wie sie wieder ungezwungen miteinander umgehen sollten. Enzo stellte seine kleine Reisetasche ab und nahm Kirsty in die Arme. Zuerst zögerte sie, die Geste zu erwidern, doch als sie es tat, drückte er sie fester.
Am Ende löste sich Kirsty als Erste aus der Umarmung, und sie sahen sich an. «Alles in Ordnung?», fragte er. Sie war so blass.
Sie nickte. «Nur müde. Nicht besonders gut geschlafen.» Sie spähte zur Anzeigetafel. «Dein Flug ist immer noch nicht drauf.»
Er zuckte die Achseln. «Durch den Nebel hat sich alles verschoben.»
«Wie kommst du von Barcelona aus weiter?»
«Mit dem Leihwagen. Die Fahrt dauert wahrscheinlich nur anderthalb Stunden.»
«Ich geh dann mal besser.» Sie reckte sich und berührte seine Wange mit den Lippen. «Dann also bis bald, wenn du zurück bist.»
«Ja.» Und es brach ihm fast das Herz, als sie durch das Gate verschwand.
* * *
Auf dem Flug fühlte sie sich verloren in einem Dunst der Ungewissheit. Falls sie überhaupt geschlafen hatte, dann war sie sich dessen nicht bewusst. Ihr brummte der Schädel, sie hatte einen Kloß im Hals, und von den Tränen, die sie ins Kopfkissen geweint hatte, brannten ihr die Augen. Sie musste daran denken, dass der kleine Junge, der vor so vielen Jahren in Spanien entführt worden war, an irgendeinem Punkt im Leben herausbekommen haben musste, dass er jemand anders war. Ein Fremder, sein Leben bis dahin eine einzige Lüge.
Genauso, wie sie sich fragte, wer sie jetzt war und wer sie vorher gewesen war.
Dabei hatte sich rein oberflächlich nichts geändert. Ihr bisheriges Leben war immer noch dasselbe. Eine Kindheit mit der Liebe und der Geborgenheit eines Vaters, von dem sie geglaubt hatte, er würde für immer da sein. Dann all die Jahre ohne ihn, voller Abneigung, ja Hass. Die ständige Anwesenheit von Onkel Sy, den sie gemocht hatte, der jedoch nie ihren Dad hatte ersetzen können. Ihren richtigen Dad. Doch nun stellte sich plötzlich heraus, dass er ihr richtiger Dad war. Und was hatte sich dadurch geändert? Alles nur Gene, Blutsverwandtschaft und Familienbande. Weshalb sollte das irgendetwas an ihrem Verhältnis zu Enzo ändern? Aber das tat es nun mal irgendwie.
Bei dem Gedanken wallten neue Tränen auf, und sie wandte das Gesicht zum Fenster, um den lasziven Blicken eines Mannes auf der anderen Seite des Gangs zu entkommen, der sie im Visier hatte, seit sie ins Flugzeug gestiegen war. Sie lehnte den Kopf an die kühle Scheibe und konnte es kaum abwarten, in Clermont-Ferrand Roger wiederzusehen. Jemanden, dem sie sich anvertrauen, eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Starke Arme, die sie hielten. Der einzige Halt, der ihr blieb, während alles andere in ihrem Leben in Auflösung begriffen schien.
* * *
Sie war enttäuscht, als an seiner Stelle Anna in der Ankunftshalle auf sie wartete. Ihre Gastgeberin küsste sie auf beide Wangen.
«Wo ist Roger?»
Anna zögerte. «Er musste nach Paris zurück.» Sie warf einen musternden Blick auf Kirsty. «Sie sehen schrecklich aus.»
«Danke. Sie ziemlich gut.»
Anna lächelte. «Tut mir leid. Es kam mir nur so vor, als hätten Sie vielleicht gerade geweint.»
«Ich hab nicht besonders gut geschlafen, weiter nichts.»
Sie gingen zum Parkplatz hinaus, wo Kirsty in die strahlende Wintersonne trat, die über die Berge des Zentralmassivs schräg in das weite, flache Hochtal einfiel, in das die Stadt Clermont-Ferrand eingebettet war. Auch wenn hier im Vergleich zu London niedrigere Temperaturen herrschten, zog Kirsty das klare, frische Klima dem jener tristen nebligen Novembertage in Südengland vor.
Sie begaben sich auf die A75 Richtung Süden, bevor sie die Autobahn bei Massiac verließen und auf der N122 nach Westen in die Berge des Cantal hinauffuhren. Kirsty saß da und starrte aus dem Fenster, obwohl sie kaum etwas von der wechselnden Landschaft – den schroffen Hängen der fichtenbewachsenen Berge und den zerklüfteten, schneebedeckten Felsspitzen, die sie überragten – mitbekam. Die Straße wand sich durch Schluchten, in die den ganzen Winter über kein Sonnenstrahl drang, doch ab und zu tauchte plötzlich eine Stelle auf, wo gleißendes Licht seinen Weg zwischen den Gipfeln
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