Der Moloch: Roman (German Edition)
Schultern. » Mir steht wahrlich nicht der Sinn danach, im Dunkeln auf den Straßen von Lindo herumzulaufen.«
» So schlimm ist Lindo auch wieder nicht«, erwiderte er freundlich. » Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, hast du immerhin in der Kanalisation gelebt.«
» Ich habe dort nicht gelebt«, erwiderte sie pikiert. » Ich habe sie nur besucht.« Dann lächelte sie, und er erwiderte das Lächeln und erinnerte sich daran, wie sehr er sie gemocht hatte. » Wie ich sehe, hast du dein Gedächtnis wiedererlangt«, fuhr sie fort und arrangierte sorgfältig ihre Röcke, während sie sich in den gepolsterten Stuhl sinken ließ.
Bartellus schüttelte den Kopf. » Der Gestank in den Hallen vernebelt einem den Verstand. Ich glaube, man versucht, den Gestank der Kanalisation auszuschließen, aber dabei blockiert man auch seine ganz normale Denkfähigkeit.«
» Unsinn«, widersprach sie ungeduldig. » Du hattest nur ganz einfach eine Reihe von schockierenden Erlebnissen hinter dir. Dein bester Freund hat dich verraten, du wurdest vor Gericht gestellt, verurteilt und gefoltert. Nachdem du schließlich entkommen konntest, musstest du feststellen, dass deine Familie abgeschlachtet worden war. Du warst gezwungen, dein Leben in der Kanalisation einer Cité zu fristen, der du mit Mut und Ehre dein ganzes Leben gedient hast. Das hat dein Verstand auszugrenzen versucht, General.«
Bartellus konnte nur nicken. Er kam sich irgendwie närrisch vor, wie immer in ihrer Gegenwart.
Emly kam herein. Sie brachte Wein für Archange und entzündete einige Lampen. Ihr Qualm zog durch den Raum, und sie öffnete das Fenster einen Spalt. Leise Stimmen und kühler Wind drangen von der Gasse herein.
Die Frau sah das Mädchen an. » Kannst du dich an mich erinnern, Kind?«
Emly warf einen Blick auf ihren Vater. » Ja, Mylady«, sagte sie dann und machte einen kleinen Knicks.
» Wie alt bist du jetzt?«
» Fünfzehn«, flüsterte Emly. Das hatte ihr Vater ihr aufgetragen, auf diese Frage zu antworten.
» Und wie viele Jahre lang bist du schon fünfzehn?«
Emly sah wieder zu Bartellus, weil sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte.
» Lass uns eine Weile allein, bitte«, bat Bartellus seine Tochter sanft.
Aber Emly rührte sich nicht von der Stelle. Sie blieb stehen, knallrot im Gesicht, in trotziger Haltung. Er unterdrückte einen Seufzer. Er hatte gewusst, dass dieser Moment irgendwann kommen musste, der Augenblick, an dem sie von seiner Vergangenheit erfuhr und mitbekam, wie unsicher die Zukunft sein würde. Er nickte, und Emly setzte sich auf den Boden.
» Das war ein sehr merkwürdiger Tag«, sagte Bartellus zu der alten Frau. » Ich habe vorhin an dich gedacht, an dich, an den Prozess und an Arish.«
» Aus diesem Grund hast du also das Buch über militärische Tätowierungen gelesen, statt der üblichen Bücher über Geschichte und Architektur.«
» Weißt du denn alles über mich?«
» Ich weiß von der Bibliothek, selbstverständlich, und von der Herberge, die du besuchst. Die Leuchtenden Sterne. Außerdem weiß ich von dem Haus in der Straße der Strahlenden Tänzer. Es ist dumm, wenn ein Mann, der auf der Flucht ist, feste Gewohnheiten annimmt, auch wenn es einem alten Mann schwerfällt, das nicht zu tun.«
Er breitete die Hände aus. » Wir leben jetzt seit vier Jahren in diesem Haus. Wir haben uns immer sicher gefühlt. Ich bin selbstgefällig geworden«, gab er zu.
» Ja, Selbstgefälligkeit kann man leicht mit Sicherheit verwechseln.« Sie beugte sich vor. » Du musst von hier fortgehen, Shuskara«, sagte sie drängend. » Du hast unerwünschte Aufmerksamkeit auf dich gezogen.«
» Aufmerksamkeit? Von wem? Von deinem Bruder?«, fragte er scharf.
» Marcellus?« Sie schüttelte den Kopf. » Ich habe keine Ahnung, was Marcellus weiß. Er vertraut sich mir nicht an. Seit zwanzig Jahren ist dein Name zwischen uns nicht mehr gefallen. Aber ich weiß, dass es Gerüchte gibt, Shuskara wäre am Leben und würde sich im Arsenal verstecken. Ich habe nicht lange gebraucht, dich zu finden, und es wird auch die anderen nicht allzu viel Zeit kosten. Du musst hier verschwinden, so schnell du kannst, General. Nimm deine Tochter und flieh, wenn möglich noch heute Nacht.«
Er spürte die Weisheit ihrer Worte tief in seinen Knochen und musste sich zusammenreißen, um nicht Emlys Hand zu nehmen und auf der Stelle das Haus zu verlassen und in die Nacht hinauszugehen. Aber er zwang sich zur Ruhe und versuchte
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