Der Moloch: Roman (German Edition)
» Denn du hast Recht, ein Blatt Papier kann die Cité weit schneller und einfacher durchqueren, als ich es vermag.«
Er wartete, und schließlich sprach sie weiter. » Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, fragtest du mich nach einem Brandmal, das du auf einer tätowierten Leiche gefunden hast. Hast du jemals die Bedeutung dieses Brandzeichens herausgefunden?«
Es überraschte ihn, und er wunderte sich, dass sie sich nach all der Zeit noch daran erinnerte. Er schüttelte den Kopf.
» Nein, aber erst heute habe ich die Bedeutung einiger seiner Tätowierungen entschlüsseln können. Deshalb habe ich dieses Buch gelesen.« Er dachte an Fell und daran, dass er auch mit diesem Mal gebrandmarkt war, entschied sich jedoch, es nicht zu erwähnen. » Ich konnte die Karriere dieses Soldaten verfolgen, jedenfalls teilweise, aufgrund der Tätowierungen auf seinem Körper. Jeder, der Zugang zu Armeeunterlagen hat, könnte herausfinden, wer er war.«
Sie schien nur unkonzentriert zuzuhören. » Erzähl es mir«, sagte sie zerstreut.
» Er hat bei den Vierundzwanzigsten Vinceri gekämpft und bei den Kundschaftern des Kaisers, als sie sich noch die Aussätzigen nannten. Das war allerdings eine sehr kurze Zeitspanne vor etwa achtzehn Jahren, als ich am Kap Salient gedient habe.« Sie nickte. » Und«, fuhr Bartellus fort, » er hat in der Zweiten Schlacht von Edyw gefochten.«
Sie nickte wieder. » Die Überlebenden dieser Schlacht sind eine kleine, erlesene Gruppe. Und recht einfach aufzuspüren, würde ich vermuten.«
Eine schalkhafte Stimme in ihm hätte gern gesagt: ›Ich dachte, du wärst an militärischen Fragen nicht interessiert?‹ » Selbstverständlich«, erwiderte er jedoch stattdessen, » muss das nicht bedeuten, dass er auf unserer Seite gekämpft hat. Wir wissen nicht, wie viele Blaue immer noch mit dieser Tätowierung herumlaufen.«
» Du glaubst also, dass dein Toter ein Feind gewesen sein könnte?« Er beobachtete ihr Gesicht, als er antwortete. » Er trug auf seinem Rücken auch das Zeichen der Königlichen Leibwache von Odrysia. Unter Matthus.«
» Ein wahrhaft faszinierender Leichnam«, bemerkte sie trocken.
Dann herrschte lange Schweigen, und Bartellus beobachtete die Frau. Sie schien nachzudenken und blickte abwesend in eine der Lampen. Wieder fragte er sich, wie alt sie wohl sein mochte. Und wie viel von dem, was sie sagte, konnte er glauben. Konnte er ihr überhaupt vertrauen? Er wandte den Blick ab und schaute hinaus in die Dunkelheit, die gegen die Fensterscheibe zu drücken schien. Dieses Treffen fühlte sich fast wie eine Verschwörung an, aber was für armselige Verschwörer waren sie, zwei alte Leute, beide mit einem nachlassenden Gedächtnis.
» Indaros Name«, sagte Archange schließlich, und schien das Thema zu wechseln, » lautet Indaro Kerr Guillaume.«
Bartellus hatte plötzlich das Bild eines schlanken, asketischen Mannes vor Augen, mit dunklen, undurchdringlichen Augen, der ihn über einen Tisch eines festlichen Abendessens hinweg mit unterschwelligem Ärger anstarrte. Und dann plötzlich in lautes Lachen ausbrach.
» Ich kannte ihren Vater«, erklärte er. » Lebt er noch?«
» Das glaube ich schon.«
Er schüttelte seinen Kopf. » Es ist ein Wunder. Sie tragen den Namen von zwei Familien und sind eine doppelte Bedrohung für den Kaiser.«
» Der Unsterbliche wusste seinen Rat zu schätzen. Vielleicht tut er das sogar immer noch«, erwiderte sie. » Und Indaro war nur ein einfacher Soldat. Dazu eine Frau. Das ist doppelt unbedrohlich. Es gab auch einen Sohn, der verschwunden ist.« Sie sah ihn an. » Deshalb war Indaro in den Hallen. Sie hat ihren Bruder gesucht.«
» Erzähl mir etwas über die Hallen der Wächter.«
Ihre Hand glitt zu dem silbernen Schmuck an ihrem Hals. Die Haut auf ihrem Handrücken war braun und faltig und sah aus, als wäre sie in der Sonne getrocknet worden. » Es war so, wie du vermutet hast. Es war ein Zufluchtsort für junge Frauen, die nicht im Krieg kämpfen wollten. Und die auch nicht schwanger werden wollten, um ihm zu entgehen. Es war eine Übergangsstation, bevor ich sie heimlich in Sicherheit bringen konnte. Damals hast du das missbilligt, wenn ich mich recht entsinne«, setzte sie nachdrücklich hinzu, während ihr Blick kurz Emly streifte. Das junge Mädchen ließ sie nicht aus den Augen und schien ihre Worte förmlich aufzusaugen.
Er hatte nicht vor, sich zu rechtfertigen. » Ich habe meine Meinung geändert«, erwiderte er kurz.
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