Der Moloch: Roman (German Edition)
Stück weiter entfernt lösten. Sie warf Bartellus einen letzten Blick zu und ging dann eilig davon. Er sah zu, wie die drei in die Blauenten-Allee einbogen. Dann ging er wieder ins Haus, machte die Tür zu und schloss sie ab. Emly beobachtete ihn.
» Wer ist sie?«, flüsterte sie.
Bartellus sagte es ihr. Archange gehörte zum Hochadel. Sie gehörte der großen kaiserlichen Familie von Vincerus an. Sie war die Schwester von Marcellus und Rafael und beträchtlich älter als die Brüder. Aber, jedenfalls wurde die Geschichte so erzählt, als ihr Vater starb, wurde Archange vollkommen von den Jungen abhängig, die damals noch Kinder waren, während sie schon eine reife, unabhängige Frau gewesen war.
Sie war eine große Schönheit, fuhr Bartellus fort. Sie hatte viele Freier unter den Reichen und Mächtigen, und auch unter jenen, die unbedingt reich und mächtig werden wollten. Sie jedoch entschied sich, einen Soldaten zu heiraten, und zwar keinen gewöhnlichen Soldaten, sondern einen Fremden, der viele Jahre jünger war als sie selbst. Diese Heirat gefiel den beiden Jungen nicht, die Archanges Leben kontrollierten. Sie wandten sich gegen diese Liaison, und kurz darauf verschwand der junge ausländische Soldat. Er wurde getötet, bestochen, er floh – niemand wusste es.
Archange jedenfalls verschwand für viele Jahre aus den Geschichtsbüchern der Cité. Als sie wieder auftauchte, schien sie wild entschlossen zu sein, die Vinceri zu demütigen. Sie nannte sich eine Advokatin, die die labyrinthischen und häufig widersprüchlichen Gesetze der Cité vor den Gerichten des Kaisers auslegte und Bittsteller gegen seine Rechtsgelehrten vertrat. Das war selbstverständlich keine schickliche Aufgabe für eine Frau. Angeblich versuchten die Vinceri, sie zunächst mit Versprechungen und dann mit Drohungen davon abzubringen. Aber sie hatte sich bereits die Erlaubnis des Kaisers geholt, der ganz eindeutig seine eigene Agenda hatte. Aus diesem Grund hatten Marcellus und Rafael keine Möglichkeit, ihre Schwester an die Kandare zu nehmen.
Zunächst war Archange außergewöhnlich erfolglos als Advokatin. Sie vertrat hauptsächlich Frauen, die durch den Tod eines Vaters, eines Ehemannes oder eines älteren Bruders mittellos dastanden und ohne eigenes Verschulden aus einem behüteten Leben in eines aus Not und Schande gefallen waren. Archange versuchte, die unübersichtlichen Gesetze der Cité so zu formen, dass sie diesen Frauen nützten. Meistens jedoch scheiterte sie. Nach einer Weile jedoch häuften sich ihre geringen Erfolge, und ihre Fälle wurden, für eine gewisse Zeit jedenfalls, recht beliebt bei den Zuschauern.
Dann jedoch überschritt Archange eine Grenze. Sie willigte ein, bei einem Strafprozess zu plädieren, und zwar einem sensationellen Prozess, einem, den Bartellus niemals vergessen würde. Und zudem war es ein Prozess, den die Frau gewann, in gewisser Weise jedenfalls. Denn danach verschwand sie ein zweites Mal, und schließlich vergaß die gleichgültige Welt ihren Namen wieder.
» Du kannst einen Rucksack packen«, befahl er Emly. » Wir brechen bei Tagesanbruch auf.« Dann runzelte er die Stirn, als ihm etwas einfiel. » Wo steckt eigentlich Frayling?«
19
Emly packte in ihrem winzigen, von Kerzen erleuchteten Schlafzimmer ihren Rucksack aus grobem Tuch. Sie legte zwei gefaltete Ersatzkleider hinein, dazu feste Winterschuhe, dicke Strümpfe und Unterwäsche. Sie hatte noch ihren warmen Mantel, doch den würde sie tragen, denn so frühmorgens würde es kalt sein. Dann warf sie noch eine Handvoll billigen Schmuck hinein, den sie auf dem Markt gekauft hatte, hölzerne Armreifen und Perlen aus bemaltem Ton. Sie holte tief Luft und versuchte praktisch zu denken. Was brauchten sie noch? Sie ging nach unten in die Küche und holte von dort Kerzen und Seife.
Als sie wieder in ihr Schlafzimmer ging, bemerkte sie, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie eilte in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie wollte nicht, das Bartellus sie weinen sah.
Dann legte sie sich in ihrem alten braunen Kleid auf das Bett und starrte an die Decke. Sie würde heute ganz sicher keinen Schlaf finden, also würde sie bis zum Tagesanbruch einfach hier liegen bleiben. Sie fragte sich, wo sie wohl morgen schlafen würden. Die Worte, die sie gehört hatte, gingen ihr noch im Kopf herum, und sie sortierte sie, versuchte, daraus schlau zu werden.
Obwohl ihr Vater es dachte, bedauerte sie es nicht, das Haus des Glases verlassen zu
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