Der Moloch: Roman (German Edition)
Statue, um einer Abteilung Soldaten aus dem Weg zu gehen und anderen Gestalten, die geheimnisvolle Missionen im mitternächtlichen Palast zu erledigen hatten. Sie konnte es sich zwar leisten, einmal gesehen zu werden, weil sie behaupten konnte, sie wäre neu im Palast, sie wäre dumm und hätte sich verirrt. Aber beim zweiten Mal würde man auf sie aufmerksam werden, und das durfte nicht passieren. Also glitt sie von Schatten zu Schatten und betete, dass sie auf niemanden traf, und ganz besonders nicht den Mann mit dem Schnauzbart und dem durchdringenden Blick.
Sie brauchte länger, als sie gehofft hatte, um die vergoldete Treppe zu finden, die, wie sie jetzt wusste, die Granatapfeltreppe hieß. Eine Weile war sie unsicher, ob sie überhaupt am richtigen Ort suchte, denn die Treppe war von Fackeln erhellt, deren Licht sich in dem Gold spiegelte. Als sie die Treppe zuvor gesehen hatte, hatte nur das matte Licht des späten Nachmittags darauf geschienen.
Sie zögerte, dann lief sie rasch hinab in das nächste Stockwerk, sah sich um, und stieg noch zwei Stockwerke tiefer nach unten. Hier waren die Geländer angeschlagen und heruntergekommen, einige Pfosten waren schief oder fehlten ganz. Das Licht der Fackeln reichte nicht mehr bis hierher, und eine weitere Treppe, diesmal aus grauem Stein, führte weiter in die Dunkelheit. Nervös nahm sie eine Fackel aus der Halterung an der Wand und ging hinunter.
Der Geruch von feuchtem Verfall erinnerte sie an den Gestank der Kanalisation. Am Fuß der Treppe führte ein Korridor in beide Richtungen. Amita ging nach links. Dieser untere Teil des Palastes schien verlassen zu sein, und sie bewegte sich rasch. Einmal hörte sie in der Ferne das Knallen von Stiefelabsätzen auf Stein, sonst jedoch war alles still, und das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das schwache Knistern der Fackel.
Nach einer Weile blieb sie stehen und gestand sich ein, dass sie den falschen Weg genommen hatte. Sie drehte um und rannte zurück, um die verlorene Zeit aufzuholen. Aber gerade als sie die Granatapfeltreppe in der Ferne sehen konnte, musste sie stehen bleiben. Sie hörte Schritte die steinerne Treppe herunterkommen. Ihr Herz schlug schneller, hastig steckte sie die Fackel in eine Halterung und glitt in eine dunkle Nische in der Wand.
Zwei Gestalten trafen sich im Licht einer Fackel am Fuß der Treppe. Die eine war ein dunkelhaariger Mann, dessen Bart fein säuberlich kurz geschnitten war. Der andere war nur ein Junge, jünger als sie selbst, mit blondem Haar und einem dürren, ungelenken Körper. Er trug grüne Seide, so glatt, dass sie sogar in dem flackernden Licht noch glänzte. Amita wich zurück, weil sie fürchtete, sie könnten irgendwie ihre Anwesenheit spüren.
» Warum treffen wir uns an diesem öden Ort, Herr?«, fragte der dunkelhaarige Mann.
» Mir gefällt es hier unten«, antwortete der Junge. » Dieser Ort erinnert mich an die alten Zeiten. Ich habe einen Moment vergessen, dass du dir nicht gerne nasse Füße holst, Rafael. Oder dir die Hände schmutzig machst«, setzte er spöttisch hinzu.
Er blickte hoch, und Amita sah, dass über ihm in der Dunkelheit der Treppe zwei bewaffnete Soldaten standen.
Der Junge seufzte, als würde ihn das Gespräch jetzt schon langweilen. » Ich suche Armeeaufzeichnungen«, sagte er dem Mann namens Rafael.
» Hier unten? Ich dachte, sie wären alle zu Dashoul im Südflügel gebracht worden.«
» Nicht alle. Alles, was älter ist als zwanzig Jahre, wird immer noch in der Bibliothek der Stille aufbewahrt. Sie werden verrotten, wenn man sie nicht rettet«, erklärte Rafael.
» Ich werde dafür sorgen. Was suchst du?«
» Nichts Wichtiges«, erwiderte der Junge ausweichend. » Man hat mir gesagt«, fuhr er dann fort, » dass du für die Wiederbeschaffung des Gulon-Schleiers verantwortlich bist.«
» Ja, Herr.«
» Du besitzt die ewige Dankbarkeit des Kaisers. Wir haben gedacht, er wäre längst aus der Cité verschwunden. Wo war er?«
» Bei einem Mädchen in Lindo. Sie hatte ihn einem Kaufmannssohn gegeben, vielleicht als ein Liebesunterpfand. Er hat ihn erkannt und sofort dem Palast gemeldet.«
» Woher kannte dieser Kaufmannssohn den Schleier?«, wollte der Junge wissen. Amita hatte den Eindruck, dass er irgendwie mürrisch klang, und fragte sich, wer er wohl sein mochte. » Wie viele Leute wussten, dass er verschwunden ist und welchen Wert er besitzt?«
» Nur sehr wenige, Herr«, erwiderte Rafael gelassen. » Aber wir konnten ihm
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