Der Moloch: Roman (German Edition)
weil sie fürchtete, dass er den Schein sehen würde. Also stieg sie ganz langsam die Stufen in der Dunkelheit hinunter in dem Wissen, dass sie erwischt würde, falls er umkehrte. Mehrmals war sie versucht, umzudrehen und von diesem schrecklichen Ort zu flüchten. Dann rief sie sich jedoch ins Gedächtnis, dass die Tage rasch verstrichen und Elijas Leben möglicherweise von dem abhing, was sie fand.
Sie war eine Weile hinabgestiegen und hatte sich, ohne etwas sehen zu können, an der steinernen Wand entlanggetastet, als ihr nackter Fuß plötzlich in Wasser trat. Es war eine schlammige Brühe, und sofort stiegen die schrecklichen Erinnerungen an das Leben in den Hallen in ihr hoch. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knien, und sie tastete vorsichtig mit dem anderen Fuß weiter, ob noch eine Stufe auf sie wartete. Es gab aber keine mehr; sie hatte das Ende der Treppe erreicht. Links von ihr schimmerte schwach das Licht einer Fackel. Sie watete langsam darauf zu und probierte mit dem Fuß jeden Schritt, damit sie nicht erneut auf eine Stufe stieß oder in ein Loch fiel.
Das Wasser war eiskalt, und die Luft um sie herum stank nach abgestandenem Wasser und nassem Stein. Sie zitterte, vor Kälte und vor Angst.
Sie fand den Jungen in einem Raum zu ihrer Rechten. Die geschnitzte Eichentür war halb geöffnet, und das Licht seiner Fackel wurde vom Wasser reflektiert. Sie suchte nach einem Schlupfloch und fand ein Stückchen weiter im Korridor eine tiefe Nische in der Wand, in der sie sich verstecken konnte, falls er herauskam. Dann ging sie wieder zu der Tür zurück und beobachtete ihn durch den offenen Spalt.
Die Kammer war voller Bücher. Einige der Regale waren leer, aber es gab Stapel von Büchern, die offensichtlich vollkommen willkürlich auf Tische und Stühle gelegt worden waren. Etliche hatte man auch auf dem überfluteten Boden liegen lassen. Sie waren aufgequollen, und das Papier hatte sich aufgelöst. Der Junge war auf einen Tisch in der Mitte geklettert und hatte sich dort hingehockt. Er hatte seine langen Beine wie eine Spinne unter sich gefaltet. Neben ihm lag ein Stapel mit Büchern, und im Licht der Fackel öffnete er jedes einzelne Buch und blätterte es durch. Es waren große Folianten, die er mit einigen Schwierigkeiten auf seinen knochigen Knien balancierte. Amita fragte sich, warum sie ihn immer noch beobachtete. Womöglich würde er Stunden hier verbringen, und wenn das tatsächlich die Bibliothek der Stille war, wie sie vermutete, dann musste sie ein andermal zurückkehren. Sie überlegte kurz, wie spät es wohl sein mochte und ob der Morgen schon angebrochen war. Gerade hatte sie beschlossen zu gehen und in einer anderen Nacht zurückzukehren, als der Junge sich regte. Er legte das Buch, in dem er gelesen hatte, offen auf den Tisch und riss entschlossen etliche Seiten heraus. Dann klappte er das Buch zu und stellte es auf ein Regal zwischen ähnliche Exemplare. Dann ging er zur Tür.
Amita entfernte sich, wobei sie darauf achtete, keine platschenden Geräusche zu machen. Sie glitt in die Nische, die sie gefunden hatte und sah, wie das Licht der Fackel hell auf dem grauen Wasser vor ihr schimmerte. Dann wurde es schwächer, als der Junge platschend zur Treppe watete. Sie folgte dem Licht und sah, wie es sich entfernte, als er die Treppe hinaufstieg. Als alle Geräusche aufhörten, ging sie im Dunkeln die Treppe hinauf, bis sie eine brennende Fackel fand. Damit machte sie sich auf den Weg zurück zur Bibliothek.
Petalina wurde langsam wach. Sie lag in den zerwühlten Laken und wollte sich nicht bewegen. Ihr Hals war wund, und ihre Augen waren verklebt. Ihre Gliedmaßen waren schwer wie Blei, fühlten sich wie rohe Fleischklumpen an. Sie holte tief Luft und hustete.
» Amita!«, krächzte sie.
Aber es kam niemand, und schließlich stützte sie sich müde auf einen Ellbogen und sah sich um. Es war immer noch lange vor Tagesanbruch, aber es sickerte bereits schwaches Licht durch die Fenster, die nach Osten lagen, und tauchte den Raum in Grautöne. Sie sah umgestürzte Weinpokale, leere Flaschen und abgelegte Kleidung. Es kam immer noch niemand. Erschöpft ließ sich Petalina wieder zurücksinken und lag da wie ein Seestern, während sie an die bemalte Decke starrte.
Ich werde zu alt für so etwas, dachte sie.
Sie kannte Marcellus Vincerus jetzt seit fast dreißig Jahren. Sie liebte ihn sehr, und sie verdankte ihm alles: ihren Wohlstand, ihren Status als Palastkurtisane und sogar ihr Leben.
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