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Der Moloch: Roman (German Edition)

Der Moloch: Roman (German Edition)

Titel: Der Moloch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gemmell
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die Stirn, aber sein Gesicht hatte jeglichen Ausdruck verloren. Und seine Augen, seine Augen wirkten vollkommen leblos. Sie waren … verschwunden. An ihrer Stelle waren nur zwei Löcher in seinem Gesicht. Der Botschafter blinzelte.
    » Du lügst«, sagte Marcellus tonlos. Seine Stimme war so kalt wie ein Wintermeer. » Du lügst, weil du ein schwacher Mensch bist, der es nicht wagt, nein zu sagen. Und in diesem Punkt hast du auch Recht. Es ist besser, mir nichts abzuschlagen.« Jedes Wort war bedeutungsschwer, und bei jedem Wort hatte der Botschafter das Gefühl, wurde mehr Leben und Energie aus dem Raum gesaugt.
    Marcellus schwieg. Aber der Blick seiner seltsamen Augenlöcher schien den Botschafter zu bannen.
    » Ich … Nein … Ich …«, war alles, was der Mann herausbrachte.
    Er hatte das Gefühl, er würde von diesen Augen aufgesogen. Der ganze Raum schien in diese Augen gesaugt zu werden. Ebenso der Palast, die Cité und die ganze Welt. Diese Augen waren düstere, schreckliche Löcher, in denen eine Leere herrschte, die niemals gefüllt werden konnte. Er wurde hineingezogen und würde niemals wieder herauskommen, und er würde eine Ewigkeit im Schrecken dieser Leere verbringen. Das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu, und er geriet in Panik, hatte das Gefühl, als würde er um sich schlagen, obwohl er wusste, dass er eigentlich vollkommen regungslos auf dem Diwan saß. Der gesunde Teil seines Verstandes betete darum, ohnmächtig zu werden oder von einem Herzanfall erlöst zu werden. Er ertrank in der Schwärze, rang keuchend nach seinem letzten Atemzug durch eine Unendlichkeit aus Ewigkeiten, bis die Welt endete, die Himmel herabstürzten, und er immer noch um diesen letzten Atemzug ringen würde und …
    » Ja!«, keuchte er.
    Erlösung.
    Er verlor weder das Bewusstsein noch glaubte er, einen Albtraum geträumt zu haben. Er lag eine Stunde lang zusammengerollt auf dem Diwan aus Schlangenleder in einem leeren Raum, zitternd vor Angst, einer Angst, die eindeutig zu benennen war. Er hatte Angst vor Marcellus, davor, was der Mann ihm antun konnte, ihm, seiner Frau und seinen Kindern. Er war entsetzt angesichts der Möglichkeit, ihn jemals wiedersehen zu müssen. Schließlich fanden seine Kollegen von der Insel ihn, die sich fragten, wo er geblieben war. Sie kamen in den Schlangensaal und halfen ihm zu Bett. Er zitterte am ganzen Körper. Der Botschafter schlief in dieser Nacht nicht. Am nächsten Tag unterschrieb er sämtliche Dokumente, die man ihm vorlegte. Auf der Heimreise erlitt er einen Gehirnschlag. Er hielt noch ein halbes Jahr durch, gepflegt von seiner liebenden Frau, sprach jedoch nie wieder ein Wort.
    Der Schlangensaal war vor mehr als zweihundert Jahren gebaut worden und war einst das Schlafgemach eines Ersten Lords der Cité gewesen. Der Raum lag tief im Herzen des Palasts, und sein einziges Fenster blickte auf einen der zahllosen Höfe hinaus. Weil der Erste Lord ein wichtiger Mann war, hatte man in der Wand zum Hof in einer Ecke eine Wassertoilette eingebaut, mit Türen sowohl zur Kammer als auch nach draußen. Irgendwann war die innere Tür zugemauert und vergessen worden, aber der kleine, dunkle Raum existierte immer noch. Man konnte zwar nicht hineinsehen, aber man konnte viel von dem hören, was in Marcellus Vincerus’ Lieblingssalon vor sich ging.
    Nachdem Stille in dem Saal eingekehrt war, herrschte eine lange Pause. Dann hörte der Lauscher, wie die Tür zum Schlangensaal sich öffnete und wieder schloss. Wieder herrschte Schweigen. Der Lauscher überlegte, ob der unselige Botschafter noch am Leben war, denn es hatte geklungen, als würgte ihn der Erste Lord der Cité. Schließlich zuckte der Lauscher mit den Schultern. Er war zu sehr um seine eigene Sicherheit besorgt, als sich um einen Fremden zu bekümmern. Ängstlich wartete er noch viele Stunden, bis es stockdunkel war, bevor er in den Hof hinaustrat und in seinen Raum zurückging, um seinen Bericht zu schreiben.

31
    Dol Salida las die winzigen, präzise geschriebenen Worte des Lauschers früh am nächsten Morgen. Dann hielt er eine Kerze an das Papier und sah zu, wie es aufflammte und sich dann in Asche verwandelte. Danach lehnte er sich zurück und strich sich zerstreut über seinen Schnauzbart.
    Der Bericht sagte ihm nur wenig, was er noch nicht wusste. Es war alles andere als ein Geheimnis, dass sie Sklaven brauchten. Die Cité kämpfte ums Überleben. Die Bevölkerung schrumpfte, und man sah kaum noch jemanden auf den

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