Der Moloch: Roman (German Edition)
Kap Salient faktisch unter Hausarrest, und das seit zwanzig Jahren.
Die Hallorus -Akte war eine von vielen Akten, und Dol Salida widmete sich ihnen allen regelmäßig in der behaglichen Stille der Nacht. Er hatte es schon lange aufgegeben, in einem Bett zu schlafen, weil der Schmerz in seinem Bein ihn daran hinderte. Er schlief ohnehin nur selten, sondern döste meist nur ein bisschen in seinem Arbeitszimmer. Dort brachte er die Akten mit seiner feinen, disziplinierten Schrift auf den neuesten Stand. Zum Schluss vervollständigte er die dünne Akte über den Botschafter der Westlichen Inseln.
Dann sah er andere Unterlagen über Anspielungen auf den Tod des Kaisers durch, von denen sich im Laufe der Jahre Hunderte angesammelt hatten. Nach etwa einer Stunde lehnte er sich wieder zurück und ging diese Informationen noch einmal im Kopf durch.
Der Unsterbliche war Kaiser gewesen, solange Dol sich erinnern konnte. Sosehr es auch versuchte, er konnte einfach keine Aufzeichnungen darüber finden, wann er an die Macht gekommen war. Alle Kaiser der Cité nannte man Unsterbliche, was es unmöglich machte, ein Datum ihrer Nachfolge festzulegen. Zudem musste er in dieser Angelegenheit äußerst behutsam nachfragen, weil es als illoyal, gar als Hochverrat galt, auch nur anzudeuten, dass der Titel » Unsterblicher« etwas anderes sein könnte als die reine Wahrheit.
Mit Marcellus verhielt es sich anders. Er war ein integrer Mann: Soldat, Politiker und Historiker. Aber auch er war nicht ohne Schwäche. Trotz seiner wichtigen Rolle in der Cité und folglich auch für den Krieg verbrachte er ein halbes Jahr an der Front und kämpfte mit seinen Soldaten. Das fand Dol Salida im höchsten Maße leichtsinnig. Er wusste sehr gut, dass ein verirrtes Geschoss oder ein unglücklicher Schwerthieb den Ersten Lord töten und damit die Fähigkeit der Cité beeinträchtigen konnte, den Krieg weiterzuführen.
Seine andere Schwäche war seine Liaison mit Petalina. Marcellus war mit Giulia Rae Khan verheiratet, Marcus’ Schwester. Aber die Frau lebte schon lange bei ihrer Familie in ihrem Palast auf dem Schild, sodass Marcellus frei war, sich mit seiner Kurtisane zu treffen. Dol hatte keinerlei moralische Einwände gegen diese Affäre, aber sie zeigte eine Fehlbarkeit von Marcellus, die ihn überraschte. Andererseits vereinfachte das seine Aufgabe, und Petalina ließ sich nicht anmerken, ob ihr aufgefallen war, dass sie Dol Salida häufiger sah, wenn Marcellus in der Cité war.
Wieder dachte er an ihre neue Kammerzofe Amita. Ein paar Nachforschungen in den richtigen Vierteln hatten enthüllt, dass die eine Familie, die sie ganz gewiss nicht beschäftigt hatte, die der Kerrs war. Also woher kam sie? Es war durchaus möglich, dass sie von Marcellus selbst eingestellt worden war, um Petalina im Auge zu behalten. Oder aber von Unbekannten, um Marcellus zu beobachten. Die Möglichkeit, dass sie für Marcellus arbeitete, war das Einzige, was Dol davon abhielt, sie zu einem Verhör einzubestellen.
In einem Palast, in dem es von Intrigen nur so wimmelte, wäre seine Loyalität zumindest infrage gestellt. Die Tatsache, dass er Marcellus nachspionierte, bereitete ihm jedoch keine Probleme. Marcellus war de facto der Führer der Cité und stand als solcher natürlich im Brennpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit.
Plötzlich merkte der alte Soldat, dass sein Körper von den langen Stunden in dem Stuhl steif geworden war. Er stand mühsam auf, streckte sein nutzloses Bein und brach in Schweiß aus, als der Schmerz ihn durchströmte. Wäre ich ein mutiger Mann, dachte er, hätte ich dieses alte Bein längst amputiert und hätte es hinter mir. Er bückte sich und warf einen Blick aus seinem Arbeitszimmer. Im Osten graute bereits der Morgen, aber auf den Straßen war es noch dunkel. Er sog die Luft ein und roch den Duft von frisch gebackenem Brot. Seine Laune besserte sich ein wenig. Eine weitere lange Nacht war vorbei. In wenigen Augenblicken würde sein Diener mit Speisen und Getränken hereinkommen, und sein Tag würde beginnen.
Amita wurde immer ängstlicher. Die Pläne, die sie aus der Bibliothek gestohlen hatte, lagen ihr schwer auf der Seele. Nach der ersten Nacht hatte sie sie aus dem Versteck in ihrem Bett geholt und sie in Petalinas Kleiderzimmern verborgen. Dann hatte sie eine kurze Notiz an ihren unbekannten Kontakt verfasst, beschrieben, wo sich die Karten befanden und den Zettel in den Spalt in dem Stützpfeiler hinterlassen. Doch am nächsten
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