Der Moloch: Roman (German Edition)
Tag war die Nachricht immer noch da, feucht vom Regen, und sie hatte auch die beiden folgenden Tage ebenfalls noch dort gelegen.
Jeden Morgen, wenn sie ihre ersten Aufgaben erledigt hatte und bevor Petalina aufwachte, ging Amita in die Kleiderzimmer, holte die Pläne heraus und brütete darüber. Sie fuhr mit den Fingern über die schwachen Linien, versuchte, die winzige Schrift zu entziffern und einen Zusammenhang mit den Korridoren und Kammern zu entdecken, durch die sie täglich ging. Des Nachts streifte sie barfuß und ganz in Schwarz gekleidet durch den Palast. Sie erweiterte ihre Kenntnis seiner Geografie und erforschte die riesigen labyrinthischen Flügel auf vielen Ebenen. Und jeden Morgen versuchte sie, das, was sie entdeckt hatte, in den Linien auf den Plänen wiederzuerkennen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass diese Pläne ursprünglich in verschiedenfarbigen Tinten gezeichnet worden waren. Die Farben waren im Laufe der Jahre unterschiedlich schnell verblichen. Sie vermutete, dass jede Ebene des Palastes eine andere Farbe aufwies. Das half ihr, sich zu orientieren.
Als sie die erste Landmarke fand, die sie erkannte, die Granatapfeltreppe, eine blasse Tintenspirale, nahm sie einen Bleistift und malte zögernd ein kleines Viereck daneben. Dann zeichnete sie dieses Viereck ebenfalls auf ein leeres Blatt Papier und schrieb in der Schrift der Cité » Granatapfeltreppe«. Das führte sie zur Bibliothek der Stille und zu einem halben Dutzend anderer Punkte in dem Teil des Palastes, den sie kannte. Sie wurde kühner und zeichnete sie zuversichtlicher in ihrer eigenen, kleinen Legende ein. Jeden Tag rollte sie das Papier mit den Plänen zusammen, damit es abgeholt wurde. Aber niemand holte es ab.
Als Petalina am dritten Tag ihren Nachmittagsschlaf machte, rollte Amita die Pläne mit ihren Notizen darin ein und schob sie unter die Schuhbeutel. Sie konnte den Raum nicht abschließen, weil ihr Kontaktmann ja hereinkommen musste. Sie fürchtete, dass die Dienstmagd, die den Raum reinigte, bemerkte, dass die Türen unverschlossen waren und es Petalina melden würde. Andererseits hielt sie das für unwahrscheinlich, denn sie war besonders freundlich zu diesem Mädchen gewesen und hoffte, dass es zu ihr kommen und es ihr sagen würde, statt gleich zu ihrer Herrin zu laufen.
Sie biss sich auf die Lippe, ging durch den Garten und warf einen Blick auf die Mauer des Pfeilers. Sie fragte sich, was sie tun sollte, wenn ihre Nachricht niemals abgeholt würde. Sie hatte keine andere Möglichkeit, Kontakt mit ihren Freunden aufzunehmen. Die Tage wurden kürzer und kälter, während der Tag der Zusammenkunft nahte. Sie zitterte, als sie in die warme Wohnung zurückkehrte.
» Wo warst du?«
Petalina stand in ihrem weißen seidenen Morgenmantel am Fenster und blickte hinaus. Man konnte die Stützmauer von dort aus nicht sehen, aber Amita überkam ein Anflug von Furcht, als könnte ihre Herrin erraten, was sie tat.
» Ich habe Eure Gewänder gebürstet, Mistress«, erwiderte sie. Diese Entschuldigung hatte sie sich zurechtgelegt. » Ich mache das jeden Tag, damit ich nicht alle auf einmal reinigen muss.«
» Sehr ökonomisch. Das machst du jeden Nachmittag, während ich schlafe?«
» Ja.«
» Und des Nachts, wenn ich aufwache und du nicht hier bist? Bürstest du dann auch meine Kleider?« Amita konnte den Ausdruck auf Petalinas Gesicht nicht deuten. Sie beschloss, so ehrlich wie möglich zu sein.
» Manchmal gehe ich herum, durch die Gänge, wenn ich nicht schlafen kann.« Sie senkte den Kopf und versuchte, zerknirscht zu wirken.
» In der Nacht ist es da draußen nicht sicher. Es laufen Soldaten herum, die möglicherweise die Schwäche eines Mädchens wie dir ausnutzen könnten«, sagte Petalina streng. Dann wurde ihre Miene weicher, und sie lächelte. » Oder erhoffst du dir das vielleicht sogar?«
Amita war schockiert. » Aber nein, Mistress!«, stieß sie hervor, bestürzt darüber, dass die Frau so etwas auch nur denken konnte.
Doch Petalina hatte die Angelegenheit bereits mit einer Handbewegung abgetan. » Sieh dir das an!«, sagte sie und hielt Amita ein kleines Bukett aus rosa und gelben Rosen hin, damit sie es bewunderte.
» Das ist sehr hübsch«, antwortete Amita, nahm es in die Hand und roch daran. Die Rosen waren frisch, aber dazwischen befanden sich seidene Blüten und Blätter aus Leinen. Es war sehr hübsch, aber Amita fragte sich, wofür es war.
» Das ist eine Corsage«, erklärte
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