Der Moloch: Roman (German Edition)
zur Seite. » Es wäre mir eine Ehre, Mylord«, sagte er.
Sie standen auf, und Marcellus führte den Botschafter durch die geschnitzten Türen am Ende des Saals. Die Kollegen des Botschafters, die nicht eingeladen worden waren, sahen sich kurz an und widmeten sich dann wieder freudig ihrer Mahlzeit.
Petalina lächelte. Niemand lehnt eine Aufforderung von Marcellus ab, dachte sie.
Tausende von Jahren hatten die Westlichen Inseln in glückseliger Verborgenheit existiert. Die Eingeborenen widmeten ihr Leben dem Fischfang, dem Baumfällen und dem Bootsbauen. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt bestand im Handel mit ebendiesen Booten. Es waren kleine Fischerboote und größere Frachtschiffe. Der Botschafter selbst war über dreißig Jahre lang Fischer gewesen. Dann jedoch war die belagerte Cité auf die Inseln aufmerksam geworden und bereit gewesen, überhöhte Preise für das Bauholz und den Fisch zu zahlen, um den Bauch ihrer Bürger zu füllen. Das Gold der Cité hatte die Inseln überflutet, und mit ihm kam die Zivilisation, der dann die Verwaltung auf dem Fuße folgte. Innerhalb weniger Jahre hatten die Inseln eine Bürokratie, eine Regierung, Minister, Behörden, Bankiers, Schuldner und Gläubiger. Der einfache Fischer, ein Freund eines frisch ernannten Ministers, verließ seine ihm treu ergebene Frau und seine Kinder und wurde ausgesandt, um für sein Land am berühmtesten Hof der Welt zu lügen.
Er vermisste seine Frau und seine drei heranwachsenden Kinder und ihr Heim aus goldener Eiche, das auf den Dünen errichtet war, die von hohen Gräsern bewachsen waren, die im Wind vom Meer seufzten und sich wiegten. Die Cité hasste er. Mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, sich weiter von der natürlichen Welt der Jahreszeiten und Gezeiten zu entfernen, an die er gewöhnt war. Hier gab es nur Stein, Stein um Stein; er konnte die vielen Generationen von Städten unter seinen Füßen spüren, und sie stanken nach Blut und Tod. Seit er im Palast war, vibrierte tief in seiner Seele dumpf die Angst, und mit jeder Stunde, die verstrich, wurde er sicherer, dass er ihn nicht lebend verlassen würde.
Er war kein dummer Mann. Er wusste, wie andere ihn sahen, und er erkannte auch die Gerissenheit hinter dem Lächeln der Kurtisane. Man hatte ihr aufgetragen, ihn zu unterhalten, und das hatte sie auch getan. Aber ihr Stolz hatte sie dazu verleitet, ihm ihre wahren Gefühle zu zeigen, eine nur notdürftig kaschierte, amüsierte, herablassende Verachtung. Er fragte sich, ob sie eine Ahnung hatte, wie er sie empfand, diese in die Jahre gekommene Hure mit ihrem puppenartigen Gesicht und ihrer kindischen Garderobe.
Wenn der große Speisesaal des Kaisers darauf angelegt war zu beeindrucken, dann sollte der Schlangensaal eindeutig Unbehagen erzeugen. Es war kein großer Raum, jedenfalls nicht nach den Maßstäben des Roten Palastes. Er war breit, aber ziemlich niedrig. Und überall, an den Decken, auf dem Boden, an den Wänden und auf allen Möbeln befanden sich Schlangen. Gemalte, geschnitzte, ausgestopfte und sogar lebendige Schlangen, die durch gläserne Terrarien glitten. Der Botschafter sah sich nervös um. Er hatte nichts gegen Schlangen, aber er hatte noch nie so viele auf einmal gesehen.
» Ich hoffe, Ihr habt keine Abneigung gegen Schlangen?«, erkundigte sich Vincerus. Er lächelte etwas spöttisch. » Ich nehme an, dass die Leute, die diesen Saal entworfen haben, wer auch immer sie gewesen sein mögen, beabsichtigten, den Besuchern Furcht einzuflößen, um sie zu benachteiligen. Aber nur ein Kind würde vor diesen armen Kreaturen Angst haben. Dieser Saal ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass mehr weniger ist.«
Der Botschafter entspannte sich ein wenig. Die Vorstellung, die Vinceri zu treffen, hatte ihn eingeschüchtert. Aber die Brüder waren nur zuvorkommend gewesen und wirkten offen und freimütig. Vermutlich hatten solch mächtige und charismatische Männer es nicht nötig, verschlagen zu sein. Marcellus war groß und kräftig mit blondem ungebärdigem Haar und einem beinahe jungenhaften, hübschen Gesicht. Der Botschafter schätzte ihn auf etwa vierzig Jahre, vielleicht ein bisschen älter. Er hatte sehr dunkle Augen, die in sehr merkwürdigem Kontrast zu seinem hellen Teint und dem hellen Haar standen.
» Wie gefällt Euch unsere Cité?«, fragte Vincerus liebenswürdig. Er setzte sich auf einen Diwan aus Schlangenleder und bedeutete seinem Gast mit einer Handbewegung, ihm Gesellschaft zu leisten. Der
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