Der Moloch: Roman (German Edition)
Nordwesten. Sein Volk nennt es Gallia, aber in der Cité ist es bekannt als das Land der Nebel.«
» Ist es schön dort?« Emly konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der sie nicht innerhalb von Mauern aus Stein und Ziegeln gelebt hätte. Sie warf einen Blick aus dem schmutzigen Fenster und sah, wie der Regen an einer Ziegelmauer herunterlief, die nur eine Armlänge entfernt war.
Er schüttelte den Kopf. » Ich habe es verlassen, als ich noch ein Kind war. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Manchmal …«, er unterbrach sich und schien in die Vergangenheit zu blicken, » manchmal glaube ich, dass ich mich an einen blauen See und einen Wasserfall erinnern kann. Aber vielleicht ist das auch etwas, was mir jemand erzählt hat.«
» Bist du mit deinen Eltern hierhergekommen?« Sie liebte es immer, Geschichten von Müttern und Vätern zu hören, von Familien, die ihr Leben gemeinsam führten.
Er pickte sich noch mehr Krümel von seiner Brust. » Nein. Ich wurde als Geisel hierhergebracht. Es gab viele Jungen wie mich, Söhne von fernen Königen und Stammesfürsten, allesamt Verbündete der Cité. Wir wurden hierhergebracht, um das Kriegshandwerk zu erlernen und als Geiseln, damit unsere Väter loyal blieben. Ich war der letzte, der jüngste von ihnen. Mein Bruder und ich.«
» Wo ist dein Bruder?«
» Tot.«
» Wie war sein Name?«
» Conor.«
» Ich habe auch einen Bruder. Sein Name ist Elija.« Sie machte eine kleine Pause. » Bist du jemals wieder nach Hause gekommen, zu deinen Eltern?«
» Nein.«
» Was ist mit ihnen passiert?«
» Sie sind gestorben.«
Sein Gesicht war traurig, aber Emly fühlte einen egoistischen Funken von Befriedigung, denn das war noch etwas, was sie miteinander verband – sie waren beide Waisen.
Sie dachte eine Weile über das nach, was er gesagt hatte. » Warum warst du der letzte?«, erkundigte sie sich dann. » Hat der Kaiser entschieden, dass es zu grausam wäre, kleine Jungen so zu behandeln?« Denn das ist es ganz bestimmt, dachte sie, ohne zu merken, dass sie als Kind auf eine Art und Weise gelitten hatte, die ihm wiederum vollkommen fremd war.
Er grinste sie an, und seine gute Laune kehrte zurück. » Nein, ich glaube nicht, dass der Kaiser eingesehen hat, dass er etwas falsch gemacht hat. Es gab einfach keine Verbündeten mehr«, erklärte er. » Es gab keine Könige mehr, die ihm hätten Tribut zollen können. Sie sind alle vernichtet worden von den Armeen der Cité.«
» Alle?«
» Es gibt weit entfernte Länder, jenseits der Meere, wo sie vielleicht die Cité nicht fürchten. Aber überall, in allen Gegenden, die wir kennen, Hunderte von Wegstunden im Umkreis herrschen nur Verzweiflung und Tod. Die Cité hat keine Verbündeten mehr, nur noch Feinde, und schon bald wird sie auch diese alle vernichtet haben.«
Sie hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Bartellus hatte sich geweigert, über Politik zu diskutieren, wie er es nannte, und der arme Frayling, die einzige andere Konstante in ihrem jüngeren Leben, wusste nichts von den Ereignissen außerhalb der Mauern. Sie fühlte sich plötzlich sehr erwachsen, als sie solche Angelegenheiten mit einem Krieger der Cité besprach.
Sie zögerte, denn sie wollte ihn nicht beleidigen. » Aber du bist ein Soldat«, sagte sie dann leise. » Du hast Anteil daran gehabt.«
Sie glaubte schon, er würde darauf nicht antworten, aber schließlich sah er sie an. » Hast du diese großen Vogelschwärme gesehen?«, fragte er sie. » Im Herbst? Sie fliegen am Himmel herum und sehen aus wie Rauch, fliegen hierhin und dorthin, drehen sich, und es sieht aus wie ein riesiger Rauchvogel. Hast du sie schon einmal gesehen?« Er wartete, bis sie nickte. » Du hast nie gesehen, dass ein Vogel einfach einen anderen Weg eingeschlagen hätte als der Schwarm, oder? Denn allein würde er sterben. Soldaten sind wie diese Vögel. Sie tun, was alle Soldaten tun, weil sie sonst sterben würden. Und wenn du jeden Tag kämpfst, wenn du nur versuchst, zu überleben und deine Freunde am Leben zu erhalten, dann denkst du nicht darüber nach, was du tust, überlegst nicht, ob es richtig ist.«
Emly hielt den Atem an, weil sie seinen Gedankengang nicht unterbrechen wollte.
» Man braucht etwas … Wertvolles, es muss etwas Wichtiges geschehen, damit man sieht, dass das, was man tut, falsch ist, damit man wieder auf den richtigen Weg zurückkommt.«
» Ist dir etwas Wichtiges, etwas Wertvolles begegnet?«
» Ich habe jemanden
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