Der Moloch: Roman (German Edition)
Kinder?
» Wohin gehen wir jetzt?«, erkundigte sich Elija.
» Dort entlang«, erklärte Amita zuversichtlich und deutete nach rechts. » Der Fluss fließt in diese Richtung, und wenn wir ihm folgen, werden wir irgendwann nach draußen kommen.«
Diese Aussicht gefiel Elija gar nicht. » Ich will nicht nach draußen kommen«, sagte er zu ihr. » Ich will dorthin gehen.« Er deutete flussaufwärts.
» Dann würden wir nur wieder zurückgehen, in die Kanalisation.« Sie klang müde, und ihre Geduld war offenbar erschöpft.
» Wir würden nach Hause gehen!«
Sie sah ihn böse an. » Dein Zuhause mag ja in einem Abwasserkanal sein! Meins nicht!«
» Ich will meine Schwester finden«, jammerte er, hockte sich hin und umschlang seine Knie.
» Deine Schwester wurde von dem Regensturm mitgerissen. Wahrscheinlich ist sie tot«, sagte Amita brutal. Dann seufzte sie, kniete sich neben ihn und schlang ihre warmen Arme um seine Schultern. » Ich versuche nur, uns in Sicherheit zu bringen.«
» Ich will nach Hause«, meinte er.
» Das ist nicht dein Zuhause«, wiederholte sie. » Ein Abwasserkanal ist kein Heim. Ein Heim ist ein Ort mit warmen Betten, Essen in der Küche und Tageslicht. Und Leuten, die sich um dich kümmern. Wir müssen einen Weg zurück ans Tageslicht finden. Wir können nicht in der Finsternis bleiben.«
» Hier ist es nicht finster«, widersprach Elija und umschlang sich noch fester. Schreckliche Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf. Tageslicht bedeutete Schmerz, Verzweiflung und Demütigung. Für Elija und Emly bedeuteten dunkle Ecken, Keller und Schränke Schutz. Die Nacht bot Sicherheit.
Amita stieß entnervt den Atem aus und stand auf. Sie sah nach rechts und ging dann in diese Richtung los, ohne sich umzudrehen. Elija zögerte einige Augenblicke, dann sprang er auf und lief ihr hinterher.
In dieser Nacht schliefen sie aneinandergeschmiegt im Schutz eines Steinpfeilers, der tief in die Gestade eingesunken war. Sie waren bereits lange vor dem Ende des Tages eingeschlafen und sahen nicht, wie vom Westen ein rotes Licht langsam aus der Dämmerung emporstieg. Als die Welt mit ihren Fingern nach ihnen griff, fand sie sie, und bis das Licht verblasste, lagen sie in einer Lache aus Licht in der Farbe des Blutes.
5
Einst war die Cité gesegnet gewesen.
Vor langer Zeit, als sich Sonnen und Welten noch an einem anderen Ort drehten, legten Seefahrer an einem sandigen Strand an der westlichen Küste eines neuen Landes an. Auf Verlangen ihrer Götter gründeten sie auf einem Hügel eine Siedlung, die zunächst ein Handelshafen und später, im Laufe eines Jahrtausends, eine Stadt wurde. Als diese Stadt den grausamen Schwertern von Invasoren zum Opfer fiel, wurde sie erneut errichtet, und neue Gebäude und Straßen überzogen die blutgetränkte Erde der alten Stadt.
In der neuen Stadt wurden die Straßen aus weißem Stein gebaut, die hohen Türme mit Gold verkleidet und die Tempel mit den gemeißelten Statuen von Helden, Göttern und Tieren geschmückt. Männer und Frauen in prachtvollen Kleidern, die mit Gold, Silber und Perlen bestickt waren, flanierten über die Straßen. Sie trugen Federn und Perlen im Haar und irgendwann bemalten sie ihre Gesichter, um wie ihre Götter auszusehen. Die Götter bemerkten ihre Überheblichkeit und lachten. Innerhalb eines Herzschlages wurde die Stadt vernichtet. Ein Erdbeben stürzte die Türme und gewaltigen Paläste, alle Menschen starben, und ihr Blut sickerte in das Land. Nur ein Mensch überlebte, natürlich ein Kind, ein unschuldiges Mädchen.
Die Stadt lag für tausend Jahre verlassen da …
» Was ist aus dem Kind geworden?«, unterbrach Elija Rubins Geschichte.
Rubin dachte einen Augenblick nach. » Sie ist lange Zeit durch das Land gewandert. Sie war barfuß, und ihre einzigen Freunde waren Vögel und andere Tiere. Beim Schlafen legte sie den Kopf auf das warme Fell eines Fuchses, und Spatzen bedeckten sie mit ihren Federn. Schließlich erklomm sie einen hohen Berg. Freundliche Adler flogen herab und hoben sie hoch, brachten sie über die Berge, und sie wurde nie wieder gesehen.«
Elija machte ein enttäuschtes Gesicht, und Rubin lachte. » Und jetzt zurück zu meiner Geschichte.«
Die Stadt lag also über tausend Jahre verlassen da, Gras wuchs über die Leichen, und Ratten rannten durch die Gänge. Dann kamen neue Invasoren, mit glänzenden Schwertern und Schilden. Sie verehrten die Lieder über die Helden der Vergangenheit und begannen erneut zu bauen.
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