Der Moloch: Roman (German Edition)
er das Mädchen vor sich nicht mehr sehen konnte.
» Amita!«, rief er panisch. » Wo bist du?«
» Hier!« Er spürte, wie sie seinen Arm packte und ihn zu sich zog. » Hier. Halt dich daran fest.« Er spürte einen Holzpfosten, der tief im Schlamm steckte, und klammerte sich daran fest. » Das ist ein Stück von einem Zaun«, flüsterte ihm das Mädchen ins Ohr.
Schließlich erlosch auch das letzte Licht, und er hörte nur noch ein fernes Wimmern, als würden Hunderte Kinder weinen, und sein Herz erstarrte vor Angst.
Elija fühlte sich sonderbar behaglich, als er wach wurde. Er steckte knietief im Schlamm, aber der Schlamm war so fest, dass er seine Oberschenkel und seinen Rücken stützte. Er fühlte sich fast ausgeruht. Er hörte wieder dieses Wimmern, aber diesmal war es lauter. Er öffnete die Augen und sah zu seiner Überraschung Tageslicht. Es war ein graues, diesiges Licht, aber zum ersten Mal seit langer Zeit konnte er wieder einigermaßen sehen. Trotz seiner Ängste tat es gut, wieder Tageslicht zu sehen, und er fasste ein wenig Mut. Er hob den Kopf. Amita schlief neben ihm. Sie hatte sich an den Holzpfosten gebunden, damit sie in der Nacht nicht in den Fluss rutschte. Jetzt konnte Elija erkennen, dass sie blond war. Ihre dichten blonden Wimpern berührten ihre Wange, während sie schlief. Er entspannte sich auf dem schlammigen Ufer und überlegte, wie er seine Beine wohl aus diesem Schlamm herausziehen konnte.
Dann hörte er gedämpfte Stimmen. Er verspannte sich, hob den Kopf und sah sich beunruhigt um. Zuerst konnte er in dem dämmrigen Licht nur schlammige Böschungen sehen. Dann sah er die Lichtkegel von zwei Fackeln, die über den Fluss auf ihn zukamen. Er beugte sich vor, streckte die Hand aus und stieß Amita scharf an. Dann legte er seinem Mund an ihr Ohr. » Sei leise. Da kommt jemand.«
Er spürte, wie sie mit einem Ruck erwachte, dann hob sie den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. Er deutete mit einem Nicken flussaufwärts, und sie sah an ihm vorbei.
» Ein Boot«, sagte sie. » Sei leise. Sie können uns nicht sehen.«
Elija hatte noch nie ein Boot gesehen. Auf den Abwasserflüssen in den Hallen gab es keine Boote. Er ließ den Kopf wieder sinken, während Amita Schlamm über ihn schaufelte, und dann über sich selbst. Sie waren sowieso schon schmutzig genug, und Elija fürchtete nicht, dass man sie bemerken würde. Sie wirkten wie zwei Schlammklumpen in einem Meer aus Schlamm.
Er hörte ein leises Plätschern und das Knarren von Leder. Es wurde lauter.
» Wir verschwenden unsere Zeit«, beschwerte sich eine raue Stimme. Sie hallte seltsam über die große, freie Fläche.
» Ist deine Zeit so kostbar, Leel?«, erkundigte sich eine andere, krächzende Stimme. » Was hast du denn an einem so schönen Morgen wie heute noch vor? Willst du mit dem Kaiser im Palast frühstücken?«
Eine Frau kicherte, und Leel antwortete jammernd. » Ich sage es ja nur. Wir kommen jeden Morgen hierher, rudern den ganzen Morgen, nur um immer wieder denselben Anblick zu sehen. Seit mehr als einem Jahr ist die Blockade da. Ich sag’s ja nur.«
» Und ich sage«, antwortete der andere Mann, » du tust, was ich dir sage, Junge, und eines Tages wirst du mir dafür danken. Es wird eine Menge Beute geben, wenn unsere Jungs sie angreifen. Tote Seeleute sind leichte Beute. Lebende auch. Es gibt einen Haufen goldene Kreolen, wenn wir ihnen die Ohren abschneiden. Das möchtest du doch nicht verpassen, oder?«
Elija hob vorsichtig den Kopf und sah einen breiten, flachen Umriss auf dem Fluss. Das war also ein Boot. Die Ruder auf beiden Seiten hoben und senkten sich sanft. Und das Boot wurde kleiner, als es auf das Licht zufuhr. Das Licht war jetzt so hell, dass es in Elijas Augen schmerzte. Wieder jagte die Angst durch ihn hindurch.
6
Bartellus und das Kind wanderten lange durch die Hallen, bis sie jemanden sahen, jemand Lebendigen. Zunächst führte der Weg, den sie folgten, hinab, endlos. Die Hallen wurden schmaler und schmaler, bis sie nur noch Tunnel waren. Bartellus glaubte schon, dass sie nicht mehr tiefer in die Eingeweide der Cité vordringen konnten und schon bald die glühende Hitze des Kerns spüren würden, als die Tunnel wieder nach oben führten, sich erhoben, weit über den Lichtkegel seiner Fackel hinweg. Er fragte sich, wie tief sie schon waren und vor wie langer Zeit diese gewaltigen Kammern erbaut worden waren. Er erinnerte sich an Archanges Erzählung darüber, wie eine Stadt über der
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