Der Moloch: Roman (German Edition)
der Front gestanden, jeden Triumph mit ihnen ausgekostet und jeden Rückzug organisiert. Heute Morgen jedoch hatte Flavius Randell Kerr, General der Dritten Maritimen Armee, ihm befohlen, zu bleiben und vom Turm aus zuzusehen.
» Die Cité kann es sich nicht leisten, dich zu verlieren«, hatte der verrückte alte Mann zu ihm gesagt, als sie bei Tagesanbruch die Schlachtreihen abschritten.
» Ich führe meine Truppen selbst in die Schlacht«, hatte Fell dem General mit zusammengebissenen Zähnen erklärt. » Ich habe sonst keine sinnvolle Aufgabe.«
Der General schüttelte den Kopf. » Wir müssen uns gute Männer aufsparen. Eines Tages werden wir neue Generäle brauchen, mein Junge.«
Fell Aron Lee betrachtete die betagten Narren, die am frühen Morgen schon verdünnten Wein schlürften und einander Kriegsgeschichten erzählten. Eher würde ich mich umbringen, dachte er, als so zu werden.
Er sah sich verzweifelt um in der Hoffnung, den Ersten Lord der Cité zu sehen. Marcellus war der einzige Krieger, den Fell bewunderte, denn er war auch der einzige der Mächtigen, die man jemals ganz vorn in einer Schlacht gesehen hatte. Und er war stets der Letzte, der das Schlachtfeld verließ. Fell hatte zwar noch nie neben ihm gekämpft, aber wenn er ein ehrgeiziges Ziel in diesem Krieg hatte, dann Schulter an Schulter mit Marcellus Vincerus zu fechten. Er konnte den Mann nirgendwo auf dem Turm sehen, was ihn aber auch nicht wirklich wunderte. Marcellus befand sich zweifellos irgendwo da unten in der Schlacht oder er focht in einem weit entfernten Konflikt gegen den Feind. Er erblickte jedoch Rafael Vincerus, Marcellus’ jüngeren Bruder. Allerdings wusste er nur wenig über den Mann und konnte ihn schwerlich ansprechen.
Fell holte tief Luft. » Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er zu Randell Kerr und zwang sich, ruhig zu sprechen, » wann das letzte Mal ein General gestorben wäre. War es Victorinus Rae Khan an einem Schlaganfall, als er sich von drei Huren gleichzeitig verwöhnen ließ? Oder war es Jay Garnay, der von seinem Pferd fiel, sich am Bein verletzte und darauf bestand, die Wunde mit Rattenkot zu behandeln? Bis er schließlich an Wundbrand starb?«
Kerr grunzte. » Es spielt keine Rolle, wie sie sterben, Junge. Tatsache bleibt, dass du der erste General seit dem legendären Shuskara sein könntest, der seine Truppen persönlich in die Schlacht führt. Wenn es das ist, was du willst.«
» Marcellus führt seine Truppen ebenfalls an.«
» Der Mann ist der Erste Lord der Cité. Er kann tun, was ihm beliebt.«
Fell wusste, dass der General in vierzig Jahren noch nie seine Meinung geändert hatte. Trotzdem widersprach er weiter. » Ich besitze kein Talent für Strategie.«
Kerr deutete abschätzig auf die anderen alten Männer. » Es gibt mehr als einhundert Generäle in dieser Cité, Junge, und nur zwei von ihnen haben Ahnung von Strategie. Und ich bin keiner von ihnen. Wie bei allem anderen geht es auch hier um Politik.«
» Ich habe wenig Talent für Politik. Ich verstehe nur etwas vom Kämpfen.«
Randell Kerr war ein großer Mann, obwohl das Alter ihn bereits gebeugt hatte. Sein Gesicht erinnerte an das eines müden Hundes, und er hatte riesige Ohren. Sie wackelten, als er jetzt den Kopf schüttelte.
» Da draußen sind zehntausend Männer und Frauen, die etwas vom Kämpfen verstehen«, sagte er und deutete auf die Schlacht. Die Truppen der Cité wichen allmählich vor den Blauen zurück. » Einer mehr oder weniger macht heute schwerlich einen Unterschied.«
Fell hätte ihn am liebsten an seinen riesigen Ohren gepackt und ihn angeschrien. Doch, ein einziger Krieger kann entscheidend sein! Die Stärke und der Mut eines Soldaten können eine Schlacht wenden! Ebenso wie es die Feigheit kann. Aber das konnte er dem Mann nicht sagen, denn wenn Kerr es jetzt noch nicht wusste, würde er es niemals begreifen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Fell, wie ein Mann wie Randell Kerr so lange in der Armee hatte überleben können.
Während sie zusahen und versuchten, durch die Staubwolke die Taktik beider Seiten zu erkennen, bildete sich plötzlich in der blauen Schlachtreihe weit entfernt eine Wölbung. Sie schwoll allmählich an und drängte in die rote Schlachtreihe vor, die zögernd nachgab. Fell konnte von seinem erhöhten Beobachtungspunkt aus sehen, wie sich ein schwarzer Fleck von rechts heranarbeitete. Das war feindliche Kavallerie, die offenbar beabsichtigte, sich mit der Infanterie der Blauhäute zu
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